Heimat Großsiedlung

Vor fünfzig Jahren legten der Architekt Walter Gropius und der Regierende Bürgermeister Willy Brandt den Grundstein für die Gropiusstadt. Seither hat die Großsiedlung am südöstlichen Rand Berlins gute und vor allem weniger gute Zeiten durchgemacht. Heute sind Politiker und Vermieter überzeugt, dass die Gropiusstadt beste Zukunftsaussichten als attraktiver Wohnort vor allem für Familien hat.

Was für ein Ausblick! Vom 30. Stock des Ideal-Hochhauses in der Fritz-Erler-Allee 120 aus erkennt man auf der einen Seite den alten Flughafen in Schönefeld, während sich auf der anderen Seite der Fernsehturm am Alexanderplatz erhebt. Und zu Füßen des Betrachters erstreckt sich die Gropiusstadt: Hochhäuser unterschiedlicher Dimensionen, aber auch Einfamilienhäuser und überraschend viel Grün – eine Siedlung, über die viel gesagt wird und die nur wenige wirklich kennen.

Das Ideal-Hochhaus ist mit seinen 30 Etagen der höchste Wohnturm Berlins. Ganz oben befindet sich ein Gemeinschaftsraum, den Künstler im Rahmen der diesjährigen Jubiläumsaktivitäten für drei Wochen in eine öffentlich zugängliche Sky-Lounge verwandelten. Es war eine von zahlreichen Aktivitäten, die einen Kontrapunkt zu den Vorurteilen über die Gropiusstadt setzen sollten. Denn meist denkt man bei Erwähnung der Siedlung zuerst an die berühmte Drogensüchtige Christiane F., die in der Gropiusstadt aufwuchs, und dann vielleicht noch an Begriffe wie Trabantenstadt und sozialer Brennpunkt. Dabei war alles ganz anders geplant, als am 7. November 1962 Walter Gropius und Willy Brandt den Grundstein für die Großsiedlung legten. Ein Gegenmodell zur beengten Gründerhausbebauung der Innenstadt sollte entstehen, ein Wohnort für Familien mit Licht, Luft und allem denkbaren Komfort. Zwar nahmen viele Neu-Gropiusstädter Innentoilette, fließend Warmwasser und Aufzug dankend an; doch das ursprüngliche Konzept des namhaften Architekten ließ sich nicht umsetzen. Während Gropius 14.500 Wohnungen gepl­ant hatte, wurden es letztlich 19.000 Wohnungen für 50.000 Menschen – entsprechend dicht war die Bebauung, entsprechend unzufrieden der Baumeister mit dem, was aus seinem Entwurf geworden war.

Vor allem in den achtziger Jahren kam es zu einer Häufung sozialer Probleme. Nach der Wende hatte die Gropius­­stadt damit zu kämpfen, dass das Land Berlin sein Geld vorrangig in die Aufwertung der Ostberliner Großsiedlungen Marzahn und Hellersdorf steckte. Eine heile Welt ist das Viertel auch heute nicht: Nach Angaben des Quartiersmanagements, das seit 2005 an der sozia­len Stabilisierung der Gropiusstadt arbeitet, haben 46 Prozent der Gropiusstädterinnen und Gropiusstädter einen Migrationshintergrund, und das mittlere Einkommen betrug nach den letzten verfügbaren Zahlen aus dem Jahr 2008 nur 79 Prozent des Berliner Durchschnitts. Auf dem Lipschitzplatz, „einer der Plätze, die uns ein bisschen Sorgen machen“, sagt Quartiersmanagerin Heike Thöne, seien die Männer unübersehbar, die schon vormittags ihre Bierflaschen leeren.
Auf der anderen Seite: „Jeder, der mit offenen Augen durch die Gropiusstadt geht, sieht, dass es ein Quartier mit Zukunft ist“, so Frank Bielka vom landeseigenen Wohnungsunternehmen Degewo, dem ein erheblicher Teil der Wohnhäuser der Gropiusstadt mit ihren insgesamt 35.000 Einwohnern gehört. Dabei verweist Bielka auf das viele Grün und die gute Infrastruktur, zu der die hervorragende Verkehrsanbindung durch die U-Bahn-Linie 7 sowie die Gropius-Passagen, ein riesiges Einkaufszentrum am U-Bahnhof Johannisthaler Chaussee, gehören. „Außerdem gibt es in der Gropiusstadt eine architektonische Bandbreite, wie sie in Großsiedlungen selten ist“, ergänzt Michael Abraham von der Wohnungsbaugenossenschaft Ideal, der unter anderem das erwähnte Wohnhochhaus gehört.

Einen weiteren Vorteil der Großsiedlung erwähnt Jörg Stollmann, Architekturprofessor an der TU Berlin: „Unter dem Aspekt des klimagerechten Städtebaus“, sagt er, „ist die Gropiusstadt ideal“ – dank geringer Versiegelung und einem gut sanierbaren Gebäudebestand. Die TU Berlin arbeitet an einem Plan für den Campus Efeuweg: Nach dem Vorbild des ebenfalls im Bezirk Neukölln gelegenen Campus Rütli soll in der Gropiusstadt ein Verbund mehrerer Bildungseinrichtungen entstehen.

„Wir machen uns um die Zukunft der Gropiusstadt keine Sorgen“, sagt denn auch der Neuköllner Baustadtrat Thomas Blesing. „Die Wohnungen sind heute sehr gut nachgefragt.“ Das dürfte auch mit der Nähe zum künftigen Großflughafen in Schönefeld zusammenhängen: „Wann auch immer der Flughafen in Betrieb geht“, blickt Bielka in die Zukunft, „er wird sicherlich eine zusätzliche Sogwirkung für das Quartier entfachen.“

Bis 2016 will die Degewo 2.263 Wohnungen in der südlichen Gropiusstadt energetisch modernisieren. Bereits abgeschlossen hat das Wohnungsunternehmen den Umbau und die Erweiterung des Nahversorgungszentrums Wutzky am U-Bahnhof Wutzkyallee. Der Leerstand bei den Degewo-Wohnungen beträgt Bielka zufolge nur noch 1,7 Prozent – halb so viel wie im Gesamtbestand des Wohnungsunternehmens. Deshalb prüft die Degewo sogar die Möglichkeit von Wohnungsneubau: Bis zu 400 Wohnungen könnten in der südlichen Gropiusstadt entstehen, wobei allerdings frühestens 2014 Baubeginn sein wird. Vorerst aber wird der 50. Geburtstag dieses so oft verkannten Stadtteils gefeiert. Zentraler Bestandteil ist eine von der Kuratorin Romana Schneider und dem ehemaligen Senatsbaudirektor Hans Stimmann gestaltete Ausstellung in der Forum Factory. Dieser Veranstaltungsort in Kreuzberg wurde sehr bewusst gewählt: „Wir wollen“, sagt Frank Bielka selbstbewusst, „den Menschen in der Mitte Berlins zeigen, wo es schön ist.“

Paul Munzinger

 

Fachtagung und Ausstellung

Am 1./2. November gibt es im Gemeinschaftshaus Gropiusstadt (Bat-Yam-Platz 1) eine Fachtagung mit dem programmatischen Titel „Heimat Großsiedlung. 50 Jahre Gropiusstadt“.

Vom 23. Oktober bis 25. November läuft eine Jubiläums-Ausstellung in der Forum Factory, Besselstraße 13–14, 10969 Berlin-Kreuzberg, Montag bis Freitag 11 bis 20 Uhr, Samstag und Sonntag 11 bis 18 Uhr).

Vom 24. Oktober bis zum 15. November ist im Einkaufszentrum Gropiuspassagen (Johannisthaler Chaussee 317) die Ausstellung „Wer sind eigentlich die Gropiusstädter?“ zu sehen.
www.qm-gropiusstadt.de
 

52 - Herbst 2012
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