Nachbarn der Wildnis

„Die Kunst ist der nächste Nachbar der Wildnis“ Karl Ganser

Diese Mischung gibt es so wahrscheinlich nur in Berlin. Eine alte Lok, verwaiste Gleisanlagen und Schuppen inmitten 18 Hektar ursprünglicher Natur, von moderner Kunst durchdrungen. Im Natur-Park Schöneberger Südgelände ist diese faszinierende Melange zu finden. Er befindet sich auf dem Gelände des eins­tigen Tempelhofer Rangierbahnhofs, unweit des S-Bahnrings. Bis 1952 war der Betrieb hier weitgehend eingestellt worden. Vom Anhalter Bahnhof fuhren keine Fernzüge mehr ab. Die Natur nahm von dem Gelände Besitz. Trockenrasen, Stauden und Wald machten das Gebiet zum Naturid­yll.

Eine engagierte Bürgerinitiative setzte sich immer wieder für dessen Erhalt ein. „Ein Drittel des Parks steht heute unter Naturschutz, wir haben eine Vielzahl seltener Tiere und Pflanzen, allein 50 Bienenarten wurden gezählt“, sagt Rita Suhrhoff von der den Park betreuenden Grün Berlin GmbH. Nachdem das ehemalige Reichsbahngelände Ende der 1990er Jahre dem Land Berlin übergeben worden war, wurde der Plan verfolgt, die Naturoase zu erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Jahr 2000 wurde der Natur-Park Südgelände offiziell eröffnet und gehörte zu den weltweiten EXPO-2000-Projekten. Die Wege im Park folgen über weite Strecken dem Gleisbett, Stege und Brücken schonen die Natur. Wegen der ästhetischen Qualität der Natur und manch alter Bahnanlage kommt nicht selten die Frage auf, wo fängt die Kunst an? Das ist Programm, frei nach dem Motto: „Die Kunst ist der nächste Nachbar der Wildnis.“ Der Satz stammt von dem renommierten Stadtplaner Karl Ganser und ist am Eingang zu lesen. Die Übergänge sind fließend. Der industrielle Charakter des Geländes soll ausdrücklich erhalten bleiben. Zentrum und Wahrzeichen des Parks ist der 50 Meter hohe Wasserturm aus Stahl. An den Wochenenden ist bis Ende Oktober ganz in der Nähe ein Café geöffnet. Es gibt zwei Rundwege, die zu kürzeren oder längeren Spaziergängen einladen und sogar barrierefrei zu erkunden sind. „Man sieht Fliegenpilze leuchten und kann durch das Laub rascheln, bei uns wird nicht alles aufgeräumt“, erklärt Rita Suhrhoff das Konzept. „Das, was künstlerisch geboten wird, muss zu der ruhigen Natur-Oase passen.“ Im Sommer gastierte erfolgreich die Shakespeare Company Berlin. Verschiedene thematische Führungen werden zu Natur und Geschichte des Geländes angeboten. Eine 600 Meter lange begehbare Skulptur aus Stahl führt die Besucher in luftiger Höhe über die Vegetation und verändert so den Blickwinkel. Gebaut wurde die Skulptur von der Künstlergruppe Odious, deren Handschrift an vielen Stellen des Natur-Parks anzutreffen ist. Die beiden Bildhauer Klaus Duschat und Klaus Hartmann haben auf dem Gelände im Lokschuppen ihr Atelier. Mit Hilfe der Allianz-Umweltstiftung haben die Künstler einen einstigen Lagerplatz in den Giardino Segreto verwandelt, den Geheimen Garten. Er ist gänzlich von Künstlerhand geschaffen, aber deswegen nicht weniger reizvoll. Die Anlage ist in Anlehnung an die Struktur eines italienischen Renaissancegartens gebaut. Statt Rosen und Hecken erwarten den Besucher in Schöneberg verschiedenfarbige stählerne Skulpturen, Steinkissen und eingefasste Rasenbeete. Bewusst sollte an dieser Stelle ein Kontrapunkt zur wilden Natur des übrigen Parks gesetzt werden. Der Plan ist aufgegangen. Von Jahr zu Jahr kommen mehr Besucher. Zuletzt waren es 50.000, und viele werden wiederkommen.

Karen Schröder
 

52 - Herbst 2012
Stadt