Der reife Verführer

Der Apfel ist die Frucht des Herbstes. Manche Sorten schmecken so umwerfend wie schon im Paradiesgarten.

Wer in den Nachsommermonaten auf einer der seltenen Streuobstwiesen steht, kann sein Glück kaum fassen. Schwer tragen die Äste der Bäume an saftigen Birnen und vor allem an Äpfeln, deren Namen manch einer heute kaum noch kennt. Zum Greifen nah wie im Paradiesgarten und zum Reinbeißen köstlich reifen die alten Sorten. Ingrid Marie, Renetten, Muskatäpfel und Goldparmänen duften. Auch für die Bienen und Wespen, Mäuse, Marder, Eulen und Spechte ist die Tafel reicht gedeckt, denn der Apfel fällt wahrlich nicht weit vom Stamm. Das überreife Obst schlummert verlockend darunter im Gras und wartet darauf, vernascht zu werden.

Die Früchte des Herbstes sind besonders süß. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts und noch bis in die 50er Jahre hinein gab es bis zu 1000 Apfelsorten mit fantasievollen Namen. Irischer Pfirsichapfel, Starks Allerfrühester, Roter Falstaff, und wie sie alle heißen. Einige von ihnen kann man in dem Buch von Rosie Sanders finden, das gerade in der Edition Delius erschien. Die Autorin hat die Äpfel ihrer Heimat Großbritannien nicht nur dokumentiert, sondern auch ganz allerliebst gezeichnet. Die meisten Sorten sind oder waren auch bei uns bekannt.

Heute wachsen Äpfel ja meist im Spalier. Sie lassen sich leichter mit der Maschine ernten. Die alten Sorten sind oft resistenteren Neuzüchtungen aus Übersee gewichen. Sie sind härter und lassen sich länger in Supermärkten lagern. Meist sehen sie nur noch aus wie ein Apfel, haben aber gar kein ausgeprägtes Aroma mehr. Schließlich schmeckt der Apfel am besten bei Vollreife. Seine Lagereigenschaften hat er damit allerdings verloren. Zum Glück gibt es sogenannte Obstsortenbanken und aufmerksame Bauern, die ihre alten Sorten pflegen und auch wieder anpflanzen, damit das Kulturgut Apfel nicht verloren geht. Sogar in Schochs Küchengarten im Wörlitzer Gartenreich reifen wieder die Neuyorker Renette und der Fürstenapfel. So wie zu Zeiten von Fürst Franz von Anhalt-Dessau, der vor 200 Jahren für seine Untertanen die Landstraßen mit Obstbäumen bepflanzen ließ. Alle durften ernten. Heute kann man im Gotischen Haus im Park noch seine Wachs­früchtesammlung im „Pomologischen ­Kabinett“ anschauen. Der Danziger Kantapfel und Prinzenapfel sehen täuschend echt aus. Die Wachsfrüchte dienten dem Fürsten einst zur Bestimmung der Sorten.
Wer im Herbst durchs Land fährt und durch ein Spalier von Obstbäumen kommt, an denen die Äpfel geradezu darauf warten, gepflückt zu werden, hat sich am besten vor dem Ausflug kundig gemacht, welche Bäume herrenlos sind und abgeerntet werden dürfen. Die Organisation „Mundraub“ hat die meisten dieser Bäume auf ihrer Internetseite beschrieben, so dass auch Städter ohne Obstgarten mal die alten Sorten kosten können.

Zuhause schauen wir ins prall gefüllte Körbchen: So viele verschiedene Sorten! Eine köstlicher als die andere. Aber welche Sorten sind das nun? Da kann man natürlich das Buch von ­Rosie Sanders zur Hand nehmen, die der Bestimmung von Äpfeln einige Seiten gewidmet hat. Oder man fragt auf dem Wochenmarkt den Bauern des Vertrauens. Ist das jetzt eine Rotgestreifte Schafsnase? Oder doch ein Horneburger Pfannkuchenapfel? Der James Grieve weckt Kindheitserin­nerungen an mit Obst vollgestopfte Schürzentaschen, damals in Schleswig-Holstein. Süß und saftig macht sich das weiche Fruchtfleisch am Gaumen breit. Natürlich. Himmlisch.

Einfach paradiesisch! Denn wer über Äpfel spricht, muss tatsächlich bei Adam und Eva anfangen, obwohl gar nicht mal sicher ist, ob Eva den Adam tatsächlich mit einem Apfel (Malus) herumkriegte oder ob es nicht doch ein Granatapfel, eine Quitte oder sogar eine Feige war. Die Frucht aus der Gattung der Rosengewächse ist und bleibt das Symbol für Verführung, und sei es zum Naschen.

Inge Ahrens

 

Information

Das Apfel-Buch. 144 besondere Sortenporträts, gezeichnet und beschrieben von Rosie Sanders; Edition Delius, 2012, 168 S., Euro 39,90, ISBN 978-3-7688-3467-4

Obst pflücken, das niemandem gehört
www.mundraub.org

Pomologisches Kabinett
www.gartenreich.com

 

52 - Herbst 2012