Kleine Bühnen

Berlin ohne seine Theater wäre nicht Berlin. Nicht nur hoch subventionierte Bühnen wie das Deutsche Theater oder die Schaubühne tragen zum Ruf der deutschen Hauptstadt als Kulturmetropole bei, sondern auch freie Theater, die mit wenig oder ohne öffentliche Förderung auskommen müssen. Doch manche dieser Theater sind in ihrer Existenz bedroht – aus unterschiedlichen Gründen.

Abends kurz nach acht kommt das Fernsehen in den Wedding. Genauer: Das Format der Sitcom erobert das Prime Time Theater in der Müllerstraße. Hier, zwischen Döner-Buden und türkischen Friseursalons, tobt in „Gutes Wedding, schlechtes Wedding (GWSW)“ der ganz normale Weddinger Wahnsinn. Taxifahrer Murat, Postbote Kalle und Kiezschlampe Sabrina, nicht zu vergessen die Prenzlwichser (nämlich die Bewohner des benachbarten Latte-Macchiato-Bezirks Prenzlauer Berg) sorgen für Action auf der kleinen Bühne und Begeisterung im Publikum.

Über 80 Folgen von GWSW hat das 2003 gegründete Prime Time Theater – nach eigenen Worten ein „modernes Volkstheater“ – bisher gestemmt. Damit ist es eines der zahlreichen Sprechtheater, die für die kulturelle Vielfalt Berlins stehen. Das Spektrum könnte dabei breiter nicht sein: Zu sehen gibt es avantgardistische Experimente ebenso wie gepflegtes Unterhaltungstheater, derbe Komik genauso wie die Dramatisierung theoretischer Diskurse.

Ein wohl einmaliges Profil hat beispielsweise das Berliner Kriminaltheater: Welches andere Theater bringt schon ausschließlich Kriminalstücke auf die Bühne? Seit dem Jahr 2000 schaffen es die Theatergründer Wolfgang Rumpf und Wolfgang Seppelt, mit Stücken wie „Die Mausefalle“ und „Arsen und Spitzenhäubchen“ das Publikum anzuziehen. Im beschaulichen Friedenau hingegen hat sich das Kleine Theater am Südwestkorso auf Berliner Erstaufführungen (hauptsächlich biografisch geprägte Stücke beispielsweise über Barbra Streisand oder Frank Sinatra) spezialisiert. Eine andere Lücke bespielt das English Theatre Berlin in der Kreuzberger Fidicinstraße: Es spricht englischsprachige Berliner und Touristen an. 1990 unter dem Namen „Friends of Italian Opera“ gegründet, hat sich das Theater international einen Namen gemacht. Doch ob es das noch lange tun kann, ist unsicher. „Die Zukunft des English Theatre Berlin ist bedroht!“, warnen die Theaterleiter Günther Grosser und Bernd Hoffmeister. Der Grund: Die für die Förderung der freien Theaterszene zuständige Jury des Berliner Senats hat beschlossen, das English Theatre nicht über das Jahr 2013 hinaus zu fördern. „Mit der drohenden Schließung steht viel mehr auf dem Spiel als das Ende eines kleinen Theaters“, sagen Grosser und Hoffmeister. „Es wäre der Verlust einer Institution, die seit mehr als zwei Jahrzehnten das lebt, reflektiert und repräsentiert, was das neue Berlin seit dem Fall der Mauer ausmacht: Vielfalt, Spontaneität, Internationalität.“ Ähnliches gilt für das Prime Time Theater: Die Weddinger Theatermacher um Oliver Tautorat und Constanze Behrends beklagen ebenfalls, dass das Füllhorn der Theaterjury nicht über sie ausgeschüttet wurde, und sehen deshalb die Existenz ihrer Bühne gefährdet. Andere Theater mussten bereits aufgeben: 2008 beispielsweise die Tribüne, ein traditionsreiches Privattheater an der Otto-Suhr-Allee; und in diesem Jahr das Theater im Schokohof (das frühere Orphtheater), das nach Querelen mit dem Schokoladen, einer alternativen Kulturstätte, den Spielbetrieb einstellte.

Seit Jahren kämpfen müssen auch das Theater und die Komödie am Kurfürstendamm. Beide Häuser weisen eine beeindruckende Geschichte auf: Erbaut wurden sie vom bedeutenden Theaterarchitekten Oskar Kaufmann, und einer der ersten Intendanten war Theatermagier Max Reinhardt. Seit 1950 leitet die Familie Woelffer beide Bühnen – ganz ohne Subventionen. Doch der Geldmangel ist nicht das einzige Problem: Der Eigentümer des Ku’damm-Karrees, in dem sich die Theater befinden, plant einen umfangreichen Umbau des Gebäudes. Nach dem letzten bekannt gewordenen Plan sollen die beiden Theatersäle abgerissen und dafür ein neuer Saal errichtet werden.

Ob das wirklich umgesetzt wird, ist derzeit offen. Theaterchef Martin Woelffer lässt derweil einfach weiterspielen – beispielsweise den Schwank „Raub der Sabinerinnen“ in der Regie von Katharina Thalbach. Sie ist nicht der einzige große Name, der den Ku’damm-Bühnen Glanz verleiht: Auch Katja Riemann, Winfried Glatzeder und Maria Furtwängler treten dort auf.

Auf bekannte Namen setzt auch Dieter Hallervorden, der 2008 dem Schloss­park-Theater in Steglitz neues Leben einhauchte. Dass auch seine Bühne einen permanenten Existenzkampf führt, wurde deutlich, als im Herbst dieses Jahres Fernsehstar Dirk Bach kurz vor der Premiere des Stücks „Der kleine König Dezember“ starb. Doch Hallervorden gibt nicht auf – sehr zur Freude der Menschen im Südwesten der Stadt, die sich noch gut an die glorreiche Zeit des Schlosspark-Theaters erinnern, das einst zum Konglomerat des SchillerTheaters gehörte und mit der deutschsprachigen Erstaufführung von Samuel Becketts „Warten auf Godot“ Theatergeschichte schrieb.

Behaupten konnte sich auch die Vagantenbühne, die im Keller des Delphi-Kinos in der Kantstraße, ganz in der Nähe des Bahnhofs Zoo, eingemietet ist. Gerade feierte sie nach mehrmonatigen Renovierungsarbeiten mit einer Bühnenfassung von Federico Fellinis Film „La Strada“ Wiedereröffnung. Intendant Jens-Peter Behrend setzt auf gehobene Unterhaltung mit Anspruch – und hat mit „Shakespeares sämtliche Werke (in 90 Minuten)“ seit 15 Jahren einen Hit auf dem Spielplan.

Manchmal passiert es sogar, dass ein Off-Theater zum Liebling der professionellen Theaterkritik wird. Das erlebte das Ballhaus Naunynstraße in Kreuzberg, das mit der Inszenierung von „Verrücktes Blut“ 2011 zum renommierten Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Das Wunder schaffte Intendantin Shermin Langhoff, die das Ballhaus Naunynstraße zum Zentrum des „postmigrantischen Theaters“ erklärte. Für sie selbst wurde es zum Karrieresprungbrett – Langhoff übernimmt 2013 die Intendanz des Maxim Gorki Theaters.

Emil Schweizer

 

53 - Winter 2012/13
Kultur