Was zählen in dieser Zeit konkrete Jahreszahlen? Nichts! Das betrifft insbesondere den Sport. Die Covid-Pandemie sorgte 2020 für so viele Verschiebungen von Wettkämpfen wie noch nie. Allein bei deutschen Meisterschaften weiß man immer noch nicht, ob die ausgefallenen in dieser Saison nachgeholt und mit den aktuellen in einem Jahr gleich doppelt ausgetragen werden. Bei der Fußball-Europameisterschaft steht die Verschiebung um ein Jahr fest, erstmals in ihrer Geschichte sogar bei den Olympischen Sommerspielen.
Wegen dieser diffusen Zeitrechnung hat Sportfunktionär Bob Hanning seine 2012 erstmals aufgestellte Forderung modifiziert. Aus: „Deutschland muss 2020 Olympiasieger im Handball werden“ machte er notgedrungen: „Deutschland muss in Tokio Olympiasieger im Handball werden“. Mit diesem Titel über einem Thesenpapier rüttelte der heute 53-Jährige seinerzeit den wirtschaftlich dahinschlummernden und in der Entwicklung stehengebliebenen Deutschen Handball-Bund wach und kandidierte als einer seiner Vizepräsidenten. „Wenn ich gewählt werde, dann mache ich das zwei Legislaturperioden, um den Verband auf gesunde Füße zu stellen. Dann ist Schluss und ich kümmere mich nur noch um meinen Verein“, erklärte er damals selbstbewusst und setzte 2021 einen Schlusspunkt unter seine Verbandskarriere.
Die an der Dortmunder Zentrale beheimateten Funktionäre, die sich auf ihren Posten gemütlich eingerichtet und den erträumten Boom des WM-Titels 2007 verschenkt hatten, rissen erschreckt die Augen auf. Sie wussten, dass hier kein Großmaul mit leeren Worten um sich warf. Hanning hatte innerhalb einer Mini-Frist die mit einer halben Million Schulden dahin siechenden Füchse Berlin 2005 vor dem Absturz in die Drittklassigkeit bewahrt und nicht nur in die nationale Spitze, sondern sensationell bis in die Endrunde der Champions League geführt – nicht als Trainer, wo er seine Meriten als Assistent bis 2000 in der Nationalmannschaft und danach beim späteren Deutschen Meister HSV Hamburg schon gesammelt hatte, sondern als populärer Geschäftsführer des nunmehrigen Berliner Spitzenvereins. „Ich musste ein hohes Ziel vorgeben. Auch wenn mir der beigefügte Slogan 'Amateure hoffen – Profis arbeiten' damals nicht eben viel Beifall eingebracht hat“, erinnert sich der gebürtige Essener. Deutschland sei der weltgrößte Handball-Verband. Der müsse immer um Medaillen spielen. „Und von Bronze zu Gold sind es in der heutigen internationalen Spitze nur Nuancen“, scheint sich der längst als deutscher „Handball-Macher“ hofierte Hanning insgeheim auch mit einer andersfarbigen Medaille in Tokio zufrieden geben. Das Ziel für die japanische Metropole ist klar, auch wenn der Weg dorthin noch einen Stolperstein aufweist. Bei der Olympia-Ausscheidungsrunde müssen die deutschen Männer mit dem isländischen Trainer Alfred Gislason im März (12. bis 14.) im Turnier von Berlin erst noch die Fahrkarten buchen und im Wettstreit mit Schweden, Slowenien und Algerien einen der ersten beiden Plätze belegen. „Darüber reden wir nicht. Das setze ich voraus“, winkt Hanning ab, der sich mit Mittelmaß niemals zufrieden gibt.
Das Endspiel von Tokio soll der sportliche Höhepunkt der Hanningschen Arbeit im Verband werden, die nicht geradlinig nach oben führte. Nach außen getragene Querelen innerhalb der Verbandsspitze, unqualifizierte und unter die Gürtellinie zielende Querschüsse seines ehemaligen Kumpels Heiner Brand und der überraschende Austausch des von Hanning protegierten Bundestrainers Christian Prokop gegen Altmeister Alfred Gislason musste der für den Leistungssport zuständige Vizepräsident überstehen. „Ich hinterfrage meine Arbeit täglich neu, aber ich stelle mich selbst nie in Frage“, erklärt sich der Wahl-Berliner in allen Auseinandersetzungen zum klaren Punktsieger. Er gibt aber zu: „Ich habe in dieser Zeit viel Kraft gelassen und viele Prügel bezogen und bin deshalb froh, dass es mit guten Erfolgen jetzt zu Ende geht.“ Schließlich müssen seine Gegner eingestehen: Das Ergebnis gibt immer nur Bob Hanning recht.
Doch nun ist Schluss im nationalen Verband, bei der nächsten Wahl im Herbst will sich der 53-Jährige nicht erneut um den Posten bewerben. Aus dem schwächelnden DHB, sportlich im Mittelmaß, strukturell amateurhaft und finanziell auf tönernen Füßen hat der gelernte Kaufmann den nicht nur auf dem Papier weltgrößten Handball-Bund geformt. „Wenn es läuft, dann ist meine Arbeit getan. Das habe ich bei meiner Bewerbung vor gut acht Jahren angekündigt“, so gibt es für ihn kein Zurück vom Rückzieher.
Wenn Bob Hanning seine Aufbauarbeit erledigt und „das Kind laufen gelernt hat“, kann er die nächste Aufgabe angehen. So hat er es schon oft gehalten. Deshalb kommt im Umfeld der Füchse ab und zu Sorge auf, der begnadete Macher könnte unter seine grandiose Pionierarbeit in Berlin einen Schlussstrich ziehen und eine neue Herausforderung suchen. „Das wird nicht passieren“, winkt der Club-Manager kategorisch ab. „Dafür liebe ich die schönste Stadt viel zu sehr, bin hier heimisch geworden und habe an der Arbeit nach wie vor unheimlich viel Spaß“, begründet er. In der seit einem Jahr laufenden Umstrukturierung der Handball-Abteilung hat er zur Überraschung aller Insider Stefan Kretzschmar als Sportvorstand ins Füchse-Boot geholt und den langjährigen Publikumsliebling, Torwart Silvio Heinevetter, nach Überschreitung seines Leistungszenits ohne Gegenwehr in die Provinz ziehen lassen. „Da mischen die Medien manchmal mehr Geräusche hinein, als eigentlich vorhanden sind“, sagt Hanning nebulös und will damit andeuten, dass der vermeintliche Zoff zwischen ihm und Kretzschmar hochgespielt war, um zum übermächtigen Fußball mehr mediales Gegengewicht zu erzeugen. Selbst die Äußerung des einstigen Stars der Nationalmannschaft, dass Hanning im Gegensatz zu ihm täglich 24 Stunden nur an Handball denke, beantwortet der Angesprochene nur mit einem Lächeln. „In normalen Zeiten ohne Corona sitze ich gern im Kino oder im Theater. Ich gehe unheimlich gern gut Essen, fahre gern in den Urlaub, bevorzugt auf die Malediven, und habe seit einem Jahr ein eigenes Rennpferd.“ Der natürlich nach einem seiner Lieblings-Handballer der Füchse (Drux the King) genannte Galopper wird in Hoppegarten von Erfolgstrainer Roland Dzubasz betreut, hat aber noch nicht so richtig eingeschlagen. Dafür ist Hannings Vorliebe für schrille Pullover („Wie viele sind es? Ich könnte zwei Monate lang jeden Tag einen anderen anziehen.“) nicht nur bei Handballfans bekannt.
Zurück zum Sportlichen. Im vergangenen Sommer installierte der Geschäftsführer mit seinem Ziehsohn Jaron Siewert den jüngsten Trainer der Bundesliga. Der gerade 27 Jahre alt gewordene gebürtige Berliner würde eher in die Spielergarde des Vereins passen und muss sich gegen Handball-Ikonen wie Kretzschmar und Hanning erst einmal durchsetzen. „Was der Jaron im Spiel und in der Analyse sieht, da muss selbst ich staunen und habe einige der Nuancen wirklich nicht so mitbekommen“, lobt der Geschäftsführer, der sich ganz sicher ist: „Jaron wird sich auf Dauer durchsetzen, der ist jetzt schon ein Experte.“ Schließlich ist der einstige Rückraum-Regisseur durch die ebenso harte wie erfolgreiche Schule seines Ziehvaters gegangen, aus der mittlerweile mehr als zwei Dutzend Profis hervorgegangen sind, die verstreut in der ganzen Bundesliga spielen. Und es wird weitere geben, denn das Training der meisterlichen A-Jugend leitet Bob Hanning weiterhin selbst.
Das hielt er auch in der seit einem Jahr anhaltenden „völlig verrückten“ Corona-Saison hindurch so, die ihn als Geschäftsführer der Füchse vor immense Aufgaben und auch harte Entscheidungen stellte. „Ich gebe zu: Ich habe auch mit einem Insolvenzverwalter gesprochen, um die schlimmsten Konsequenzen auszuloten“, sagt er leise. Dass es bis zu diesem letzten Schritt nicht gekommen ist, dafür stehen Hannings auch hier andauernde Zuversicht, sein nie versiegender Optimismus und der immer wieder erstaunliche Erfindergeist. „Ich habe in den 16 Jahren bei den Füchsen nie rote Zahlen schreiben müssen. Nie! Und jetzt stehen in meiner Rechnung statt anderthalb Millionen aus Zuschauereinnahmen in der laufenden Saison-Prognose nicht einmal hunderttausend. Ich hatte eine halbe Million angespart. Die und die staatlichen Hilfen haben uns gerettet. Ich spreche ja hier nicht über die 16 Profis, sondern über mehr als 120 zu betreuende Spieler“, schließt er seine über alles geliebte und vielfach ausgezeichnete Jugendarbeit stets in alle Überlegungen ein.
Seine nie versiegenden Ideen ließen den Geschäftsführer eine Art Partei gründen. In der ADG (Allianz des Guten) hat er ein gutes Dutzend Gleichgesinnter um sich geschart, die den Verein über eigene Interessen stellen. „Um Hilfe zu bitten, das war für mich eine schwierige Entscheidung. Wir haben aber ein Instrument gefunden, das uns über die schwierige Zeit bringen wird“, ist er zuversichtlich und hat auch seinen Humor nicht verloren: „Zur Bundestagswahl werden wir mit meiner Partei im Herbst aber nicht antreten.“
Der schon ein Jahr anhaltende Pandemie-Fluch habe auch gute Seiten entwickelt. „Krise macht ehrlich. Ich habe gesehen, dass ich mich auf Freunde verlassen kann. Die Füchse-Familie ist intakt.“ Besonders stolz ist Bob Hanning auf seinen Hauptsponsor Deutsche Wohnen. Das in den DAX aufgestiegene Börsen-Unternehmen habe dafür gesorgt, dass er in der hektischen Zeit in Ruhe habe weiter arbeiten können. „Deswegen bin ich richtig sauer, was manchmal über diese Firma an Unwahrheiten verbreitet wird. Deutsche Wohnen ist ein hundertprozentig verlässlicher Partner.“ Bei einem Mann, der keinerlei Mittelmaß akzeptiert, ist das ein gewaltiges Lob.
Olympia in Tokio wird wieder einmal Gradmesser für die durchaus gewagten und teils bewusst provozierenden Prognosen von Bob Hanning sein. Dann konzentriert sich der Vordenker des Berliner Handballs auf seinen Verein. Und auch da hat er schon in die Zukunft geblickt: sportlicher Angriff auf die finanziell übermächtigen Spitzenvereine aus Kiel, Flensburg und Mannheim und Einzug in die Champions League. Allerdings hat der Handball-Visionär hier noch keinen Zeitpunkt vorgegeben.
Hans-Christian Moritz