Keiner wird aus der Familie verstoßen

Im vergangenen Sommer war Urs Fischer der am meisten umjubelte Berliner, dem Experten eine wenig rosige Zukunft voraussagten. Mit dem 1. FC Union gelang dem Trainer der sensationelle Aufstieg in die Fußball-Bundesliga. In Anbetracht des nüchternen Kaders und der übersichtlichen Finanzlage des Vereins schien die übliche Prozedur für die meisten Neu-Trainer in der Beletage vorgezeichnet: eine Serie an heftigen Niederlagen und die als „Reißleine“ bezeichnete Entlassung des zuvor gehuldigten Übungsleiters.

Doch schon in dieser Zeit zeigte sich, dass die legendäre „Union-Familie“ anders tickt als die normale Fangemeinde eines Bundesligisten. „Wenn wir Hertha zweimal schlagen und vielleicht den einen oder anderen der Großen ärgern, haben die Jungs alles erreicht, was wir Unioner wollen“, verkündete einer der wie stets in Rot-Weiß gekleideten Club-Anhänger schon bei den nicht enden wollenden Jubelfeiern in der Aufstiegswoche.

Keinesfalls wird bei Union der eben Hochgelobte kurze Zeit später verdammt. Keiner wird aus der Familie verstoßen. Kommerz bleibt verpönt. Da sind Spieler und Trainer eingerechnet. Union ist eben anders. Und der Trainer ist auch ein bisschen anders. Bei der schwierigen Wohnungssuche zum Amtsantritt im Frühjahr 2018 musste Urs Fischer erst einmal drei Monate ins Hotel ziehen, bevor der damals 52-Jährige nach rund 30 Besichtigungen eine hübsche Bleibe in der Nähe des Stadions fand. Da die Wohnung im Mietshaus jedoch einem Fan seines Vereins gehörte, wohnten auch zwei Spieler des 1. FC Union im gleichen Gebäude. Mit dem Duo führte der Schweizer sehr persönliche Gespräche, ob er da einziehen sollte. „Das musste besprochen werden. Die Spieler sollen sich im Privatleben von mir auf keinen Fall kontrolliert fühlen“, sagte er der Schweizer Zeitung „Blick“, die den Landsmann vor dem Spiel gegen den großen Favoriten Hertha BSC an der neuen Wirkungsstätte porträtierte.

In seiner für Fußballtrainer ungewöhnlich ruhigen Art kommt Urs Fischer bei den Eisernen, wie sich die Fans des 1. FC Union bezeichnen, großartig an. Er ist der ehrliche und anpackende Typ für einen Verein, dessen Fans das Stadion seinerzeit wegen der klammen Clubkasse in Eigenregie modernisierten. Fischer passt in die Reihe der Enthusiasten, die mit einer über Nacht organisierten Schneeschiebe-Aktion das – später gewonnene – Pokalspiel gegen den höherklassigen Erstligisten Borussia Mönchengladbach in den 1990er-Jahren möglich machten. Man kann sich den Schweizer auch auf einer Couch in der Stadionmitte vorstellen in der Zeit, als die Unioner bei der WM 2014 auf die Idee kamen, dass zum sogenannten Public Viewing auf einer Großleinwand jeder sein eigenes Sofa mit ins Stadion An der Alten Försterei bringen möge.

Sportlich dankt der Schweizer dem Club und seinen Fans für das Vertrauen. Im brisanten Duell um die Stadtmeisterschaft besiegten seine Fußballer Hertha BSC mit 1:0 und in der Tabelle nach der Halbzeit der Meisterschaft stand Fischers Mannschaft trotz einer kleinen Schwächephase zum Ausklang vor Weihnachten sogar einen Punkt vor dem finanzstarken West-Rivalen. Borussia Dortmund schickte der Club mit einem sensationellen 3:1 nach Hause und 2:0 wurde der damalige Tabellenführer Borussia Mönchengladbach abgefertigt.
Urs Fischer scheint zu dem Verein perfekt zu passen. Der einstige Abwehrrecke des FC Zürich und Nationalspieler der Schweiz ist in der Wuhlheide angekommen und auf Dauer etabliert. Schließlich verlängerte sich sein laufender Vertrag durch das Erklimmen der Fußball-Beletage automatisch bis 2021. Aber Fischer gibt auch zu: „Ich fühle mich sehr wohl in Berlin. Meine Heimat ist aber dort, wo ich meine Wurzeln habe: bei meiner Familie in der Schweiz.“ Die Trennung wird Fischer erleichtert, weil er so viel Platz in der Drei-Zimmer-Wohnung hat, dass neben seiner Frau Sandra auch die erwachsenen Töchter dort wohnen können. Familie Fischer bevorzugt einen Stil, der auf jegliche Statussymbole verzichtet. So ist die vorübergehende Heimstätte mit Blick auf die Spree vorwiegend möbliert mit Gegenständen, die schon den Zweitwohnungen des Zürchers in Basel und zuvor in Thun gute Dienste geleistet haben. Wichtig ist dem Fußball-Lehrer vor allem die Küche. Er geht nämlich nicht gern auswärts essen, sondern bereitet sich am liebsten abends ein Spaghetti-Gericht selbst zu.

Nach Meinung der Schweizer Sport-experten ist Urs Fischer ein in der Heimat lange unterschätzter Trainer gewesen. Er war es gewohnt, sich durchsetzen zu müssen. 175 Zentimeter Körperhöhe und wenig ausgefeilte Technik machte er mit Einsatzwillen und viel Herz wett, sodass er 2003 als Mannschaftskapitän und Publikumsliebling vom FC Zürich verabschiedet wurde und ins Trainergeschäft einstieg. Dort feierte er seine größten Erfolge: ausgerechnet beim Erzrivalen FC Basel. Doch trotz des erneuten Gewinns der Landesmeisterschaft und obendrein des Landespokals wollten die Vereinsbosse 2017 einen neuen Mann als Übungsleiter. Erst dieser Missgriff des Schweizer Clubs ebnete dem 1. FC Union den Weg zu seinem Erfolgscoach.

Die Reihe der Schweizer Cheftrainer in der mehr als 50-jährigen Geschichte der Fußball-Bundesliga ist nicht lang. Urs Fischer ist hier erst der siebte Coach der gegenwärtig mit dem bei Borussia Dortmund angestellten Lucien Favre das Geschehen jedoch aufmischt. Ausgerechnet Schweizer, deren Nationalmannschaft außer dem unbedeutenden 5:3 am 26. Mai 2012 in Basel seit dem Krieg ein einziges Länderspiel gegen Deutschland gewann und nach dem 3:1 im Frankfurter Waldstadion 18-mal ohne Sieg blieb? Vielleicht gerade deshalb, denn bei jenem Erfolg gegen den amtierenden Weltmeister am 21. November 1956 waren Favre und Fischer noch nicht einmal geboren. Die innere Balance, die Menschlichkeit, der Hang zum Zusammenhalt: Das ist es, was man oft als Antwort hört auf die Frage, warum Schweizer Trainer dem deutschen Fußball gegenwärtig so guttun. Union-Kapitän Christian Trimmel umschreibt das so: „Seine Ausgeglichenheit, auch im Stress, strahlt auf uns über.“ Urs Fischer findet genau diese Balance zwischen den Extremen. Denn ein Union-Fan glaubt, dass der Vereins-Coach auch das Wasser der Spree würde in die andere Richtung laufen lassen können. Etwas weniger tut es nach Meinung der Mehrheit auch: Man sollte die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick in einer modernen Fußball-Fassung neu veröffentlichen.
Vielleicht bringt es der Union-Trainer als zweiter Fußball-Übungsleiter nach Köbi Kuhn zur Auszeichnung „Schweizer des Jahres“. Als dem seinerzeit vergötterten Nationaltrainer einst diese Ehrung zuteilwurde, ließ sich der langjährige eidgenössische Fernseh-experte Urs Meier zum Bonmot hinreißen: „Das schafft man nicht einfach so. Dafür muss man schon Schweizer sein.“

Hans-Christian Moritz

 

81 - Winter 2020
Sport