Spitzensport und einen außergewöhnlichen Zusammenhalt – das lebt der Berliner Tischtennis-Verein TTC eastside. Nahezu jede Angriffsaktion ihrer Gegnerin pariert Abwehrkünstlerin Irina Palina weit hinter der grünen Platte. Dazwischen scheucht ihre angriffslustige Tochter Lilia die andere Kontrahentin mit wuchtigen Schmetterbällen fast in die Zuschauerreihen. Jeden gewonnenen Zähler bedenkt nicht nur das Publikum mit artigem Applaus, auch die ehemalige Europameisterin und ihre 31 Jahre jüngere Tochter klatschen sich nach dem Punktezuwachs standesgemäß ab.
Das geschieht keineswegs in einer unterklassigen Begegnung der Spreeliga, sondern während einer Spitzenpartie in der Beletage des deutschen Tischtennis. Die Mannschaft des TTC eastside Berlin ist seit einem Jahrzehnt das Maß aller nationalen Dinge. Und weil selbst auf allerhöchster Ebene Profispielerinnen krank werden, schwanger oder aus anderen triftigen Gründen verhindert sind am Punktspielbetrieb, springt Trainerin Irina Palina ein und stellt sich mit ihrer sonst meistens in der Regionalliga schmetternden Tochter zum – siegreichen – Doppel an die Platte.
Für die Philosophie des Vereins, der mit seinen Vorläufern BSG Außenhandel, TSC und 3B Berlin auf eine überaus erfolgreiche Historie zurückblicken kann, ist dieses Doppel sinnbildlich. „Ich würde schon hervorheben, dass bei uns eine ausgesprochen familiäre Atmosphäre herrscht“, sagt Präsident Alexander Teichmann zur Erklärung. Dabei sieht es der 66-Jährige lieber, wenn das im Oberhaus nicht so oft gemeinsam agierende Palina-Doppel als Aufhänger für die Medien dient, als wenn vordergründig darüber berichtet wird, dass am Einlass an die Zuschauer Kuchen verkauft wird, den die Trainerin oder die Gattin des Präsidenten gebacken haben. „Wir sind ein Spitzenverein in Europa. Da sollte der Blick schon auf die sportliche Wertigkeit gerichtet sein statt auf den Kuchen am Rande.“
Den internationalen Glorienschein musste sich der Verein aber mit viel Energie und Geduld in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufpolieren. Die 37 DDR-Meistertitel und die beiden Triumphe im Europapokal 1968 und 1969 waren längst in Vergessenheit geraten, weil die sozialistische Sportführung wegen der Chancenlosigkeit bei Olympia die Sportart als nicht mehr förderungswürdig herabstufte. Mit Aktionen wie TTT (Tischtennisturnier der Tausende) hielt man den finanziell nicht übermäßig aufwendigen Volkssport zwar beachtlich am Leben, die Spitze der Pyramide jedoch verwitterte und wurde abgetragen. Mitte der 1990er-Jahre setzte Berlins „Mister Tischtennis“ Rainer Lotsch alle persönliche Kraft und alle gesellschaftlichen Hebel in Bewegung, um die TSC-Frauen aus ihrem Schattendasein wenigstens wieder ins nationale Licht zu hieven.
Zum Aufstieg in die Bundesliga lockte der umtriebige Manager 1997 Europameisterin Irina Palina vom ungarischen Spitzenverein Statisztika Budapest an die Spree. Die viermalige Olympiateilnehmerin sollte Garant für den Klassenerhalt des Neulings sein. Was als vorübergehende Reminiszenz gedacht war, entwickelte sich zum Dauerbrenner. Die gebürtige Moskauerin sieht heute den Fernsehturm wesentlich öfter als die Zwiebeltürme der Basiliuskathedrale, wohnt mit ihrer Familie in Berlin und trainiert seit vielen Jahren die mittlerweile dienstälteste Mannschaft der Bundesliga.
„Berlin ist eine Top-Adresse“, versichert PR-Spezialist Alexander Teichmann. Mit „Top“ meint der Präsident nicht nur die national kaum noch bezwingbare Bundesliga-Mannschaft als Aushängeschild des rund 300 Mitglieder umfassenden Vereins. Für viele Spielerinnen sei es einfach eine tolle Stadt mit vielen attraktiven Sportangeboten. Einige seiner ausländischen Damen wollten einmal Diskus-Olympiasieger Robert Harting trainieren sehen. Andere fanden Gefallen an verschiedenen Bundesliga-Sportarten. Manchen gefiel einfach die Stadt, wieder anderen die vielfältige Natur. „Und“, sagt der Präsident, „unsere Bundesliga-Mannschaft, das sind Frauen. Die sind natürlich auch begeistert von den Einkaufsmöglichkeiten in der Stadt.“ Zudem eilt dem Verein der Ruf absoluter Seriosität voraus. Die Entlohnung der Profimannschaft ist nicht so horrend wie in anderen Ländern, dafür sind die Berliner den Sportlerinnen im Gegensatz zu anderen Clubs vor allem aus südlichen europäischen Gefilden das Geld noch nie schuldig geblieben. „Das spricht sich natürlich auch herum“, ist Alexander Teichmann stolz.
Allerdings hat die Corona-Pandemie auch dem TTC mitgespielt. Zwar bekamen die in der Bundesliga wieder einmal ungeschlagen an der Spitze thronenden Berlinerinnen bei Abbruch der Titelkämpfe den Meisterpokal zugeschickt, das erneute Triple – Meisterschaft, Pokalsieg und Gewinn der Champions League – bleibt ihnen aber versagt. Die Königsklasse wurde abgebrochen. Das Ankündigungsplakat für das Halbfinal-Heimspiel gegen das polnische Starensemble vom KTS Tarnobrzeg hängt weiter wie anklagend an der Bürotür des Präsidenten in der Paul-Heyse-Straße.
Doch in dieser Krisenzeit bewährt sich der familiäre Charakter des Vereins genauso wie bei der pünktlichen Bezahlung des Spielerinnen-Salärs. Die gut zwei Dutzend Förderer, Sponsoren und Unterstützer des TTC kennen sich. Man trifft sich nicht nur bei den Heimspielen, sondern pflegt auch sonst viele Kontakte. Daher entspringt auch der etwas undeutsche Vereins-Zusatzbegriff „eastside“. Unter diesem Namen firmiert eine Wirtschaftsvereinigung in den östlichen Berliner Stadtteilen Lichtenberg, Marzahn und Hellersdorf. Die örtliche Politik hält dem TTC ebenfalls die Treue, bei Heimspielen lassen sich auch mal die Bezirksbürgermeister blicken und sitzen mitten im Publikum.
Wann und wie die nächste Saison starten und ablaufen wird, steht gegenwärtig noch in den Sternen. Der TTC hat eine schlagkräftige Mannschaft beisammen, die sich allerdings im Gegensatz zum „Dreamteam“ der vergangenen Spielzeit personell etwas verändert hat. „Wir können ja mit den Planungen nicht warten, bis die Bundesliga startet“, begründet Alexander Teichmann das. Deswegen hat der gebürtige Badener, der seit 1987 in Berlin lebt, schon vorab Nägel mit Köpfen gemacht. Wegen der Unabwägbarkeiten im Reiseverkehr setzt der TTC auf Spielerinnen, die nicht so weite Wege zurücklegen müssen. So werden die deutschen Spitzen-Akteurinnen Nina Mittelham, Kathrin Mühlbach, Nationalspielerin Xiaona Shan und Jessica Göbel, die vor vielen Jahren schon einmal in Berlin an der Platte standen, für den Verein aufschlagen. Neu sind die Niederländerin Britt Eerland, die zu den 30 besten Profis der Welt zählt, und die junge Berlinerin Vivien Scholz. „Wir sind gut aufgestellt. Allerdings ist es nicht mehr so, dass wir Bundesligasiege immer voraussetzen. Aber wir haben eine Truppe, die sich sehen lassen kann und die die Gruppenphase in der Champions League überstehen wird“, verspricht Alexander Teichmann. Wenn Ausfälle drohen, kann man mit Hilfe des treuen Sponsorenpools um Weihnachten herum noch einmal die Angel nach der einen oder anderen Verstärkung auswerfen – oder eben mit dem Palina-Doppel wuchern.
Die Bundesliga arbeitet aber nur als Zugpferd der hauptstädtischen Tischtennisszene. „Wir könnten die Trainingshalle täglich ab Mittag mit Jugendlichen füllen, müssen uns die Arena aber mit anderen teilen“, weiß Alexander Teichmann um die Wahrnehmung des TTC auf den Nachwuchs. Deswegen freut er sich, dass die Halle demnächst als Trainingszentrum umgebaut und sogar mit einer Tribüne für 300 Zuschauer versehen werden soll. Ob der Verein dann die beiden Spielorte in Marzahn und Lichtenberg erhalten soll, die vorwiegend die Aufmerksamkeit der Sponsoren in den beiden Stadtbezirken für die Champions League und für die Bundesliga auf sich ziehen, oder in die Halle an der Paul-Heyse-Straße wechselt, steht noch nicht fest.
Fest steht aber, dass die Halle am Anton-Saefkow-Platz im Herbst zwei hochkarätige Veranstaltungen erlebt. Im Oktober treffen sich beim „Europe Top Ten“ die besten Nachwuchsspielerinnen des Kontinents. Davor schon gibt sich Deutschlands Frauen-Elite die Ehre. Am 6. September ermitteln in Lichtenberg alle Erst- und Zweitligisten an einem Tag die vier Mannschaften, die Anfang Januar in Hannover um den nationalen Pokal antreten. In Berlin wollen die Frauen um Irina Palina ihren Heimvorteil nutzen. Die Trainerin allerdings will sich dann nicht mehr an die Platte stellen, sondern bestenfalls ihrer Tochter Lilia den Vortritt lassen.
Hans-Christian Moritz