Vor 100 Jahren entstand Groß-Berlin durch den Zusammenschluss von acht bis dahin selbstständigen Städten, 59 Gemeinden und 27 Gutsbezirken. Das Ergebnis im Preußischen Landtag war knapp: 165 zu 148 Stimmen. Damit war das „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin“ angenommen. Aus Berlin war Groß-Berlin geworden. Insgesamt 94 Ortsteile hatten sich zur neuen Einheitsgemeinde zusammengeschlossen: acht Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke. Vom 1. Oktober 1920 an zählte die Stadt knapp vier Millionen Einwohner.
Der parteilose Berliner Bürgermeister Adolf Wermuth hatte sich durchgesetzt. Widerstand hatte es zuvor vor allem von den reichen Gemeinden des westlichen und südwestlichen Umlands gegeben. Charlottenburg, Steglitz und Wilmersdorf hielten von einer Eingemeindung erst einmal gar nichts. Anfang des Jahres 1920 warnte der Charlottenburger Magistrat: „Die zentralisierte Verwaltung eines solchen Gebietes von einem Rathaus aus ist für jeden Sachkenner eine Ungeheuerlichkeit. Der Wettbewerb der Gemeinden untereinander ist das treibende Element, welches dazu geführt hat, dass sich sämtliche Gemeinden Groß-Berlins zu blühenden Gemeinden entwickelt haben.“ – Ein Gedanke, der auch heute manch wohlhabender Umlandgemeinde, beispielsweise Falkensee, Schönefeld oder Teltow, nicht fremd sein dürfte. Der Wettbewerb unter den Gemeinden im berühmten „Speckgürtel“ ist unbestritten und auch aktuell ein Movens der Entwicklung. Um den Umlandgemeinden ein gewisses Maß an Selbstverwaltung zu lassen, wurde Groß-Berlin seinerzeit in 20 Bezirke eingeteilt, die ihre eigenen Parlamente und Verwaltungen hatten. Für den Architektursoziologen und Stadtplaner Harald Bodenschatz ist das bis heute eine Stärke von Berlin: „Wir haben sehr viele Zentren, kleine, kleinste, mittlere und große Zentren – ein unermessbares Pfund für jede nachhaltige Stadtregion. Wir müssen diese vielen Zentren aber noch weit mehr pflegen, stärken, vermehren als bisher. Dies sichert eine dezentrale Versorgung nicht nur mit Waren, sondern auch mit Kultur und sozialen Diensten.“
Groß-Berlin kam 1920 nicht aus heiterem Himmel. Auf planerischer Seite vorausgegangen war schon Anfang des 20. Jahrhunderts die Gründung eines Architekten-Ausschusses. Von 1908 bis 1909 lief ein internationaler Ideenwettbewerb zur möglichen Bebauung einer zukünftigen Metropole. Die Berliner Architekten erkannten die Zeichen der Zeit und schlossen nach dem Wettbewerb gleich noch eine Ausstellung in der Hochschule der Künste Charlottenburg zum Thema an. Verkehrsplanung war von Anfang an Teil der vielfältigen Überlegungen. Unterstützt wurden einige der Planer denn auch von der Berliner Hochbahngesellschaft, die die U-Bahn betrieb. Aus diesem Wettbewerb hervorgegangen ist auch das Konzept des Siedlungssterns entlang der Bahnstrecken, womit wir in der Gegenwart angekommen sind. Denn in der jüngst verabschiedeten gemeinsamen Landesplanung zwischen Berlin und Brandenburg beruft man sich wieder darauf. Nur dass die Strahlen des Sterns nun im Brandenburger Umland enden, meist an den Endbahnhöfen der S-Bahn. Berlin wächst schließlich von Jahr zu Jahr um mehrere 10 000 Einwohner, und Wohnraum ist knapp.
1914 stoppte der Erste Weltkrieg erst einmal alle Bemühungen in Richtung Groß-Berlin. Nach den Kriegsjahren herrschte einiges Chaos in der Stadt. Der Kaiser war geflohen, die Kassen leer. Verwaltung und soziales Leben mussten sich neu sortieren. Harald Bodenschatz sagt über die vermeintlich so goldenen 1920er-Jahre: „Diese Jahre waren nicht wirklich golden, und sie waren mit Blick auf eine relative wirtschaftliche Stabilität sehr kurz: von 1924 bis 1929. Vorher wurden Deutschland und Berlin durch die Inflation erschüttert, nachher durch die Weltwirtschaftskrise.“ Um so erstaunlicher, dass es dennoch gelungen sei, wesentliche Projekte großstädtischer Infrastruktur auf den Weg zu bringen, darunter den neuen Flughafen Tempelhof, den Westhafen, das Kraftwerk Klingenberg, das Strandbad Wannsee und die Berliner Messe. Auch die BVG als einheitliche städtische Verkehrsgesellschaft wurde in dieser Zeit gegründet.
100 Jahre nach der Gründung von Groß-Berlin muss Berlin wieder größer gedacht werden. Gerade was die öffentliche Infrastruktur angeht, können sich Senat und Abgeordnetenhaus noch nicht zu einem großen Wurf durchringen. Neue U-Bahn-Strecken ja oder nein, allein darüber wird heftig diskutiert. Auch Wohnungsbau findet eher kleinteilig statt. Neue Perspektiven zu entwickeln, ist indes Aufgabe des zweistufigen Ideenwettbewerbs „Berlin-Brandenburg 2070“, den der Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin e. V. ausgeschrieben hat. Die Ergebnisse sollen im Rahmen der Ausstellung „Unvollendete Metropole. 100 Jahre Städtebau für (Groß-)Berlin“ ab Anfang Oktober im Kronprinzenpalais vorgestellt werden.
„Seid fröhlich in Hoffnung“ steht als Vermächtnis auf dem Grabstein von Bürgermeister Adolf Wermuth, dem wir das heutige Berlin zu verdanken haben. Was für ein passender Spruch in diesem schwierigen Jubiläumsjahr. Aber einfach waren die Zeiten ja auch damals ganz und gar nicht.
Karen Schröder