Berliner Plätze: Der Chamissoplatz

Was wäre eine Stadt ohne ihre Plätze? Manche sind groß, manche klein. Manche berühmt, manche unbekannt. Sie sind quirlige Touristenattraktionen oder lauschige Rückzugsorte für die Stadtbewohner. Plätze in der Stadt haben ihre Geschichte und kleinen Geheimnisse, die es zu ergründen lohnt. Diesmal: der Chamissoplatz

Das Pissoir am Chamissoplatz ist verbarrikadiert. Dort, wo eigentlich der Eingang ist, hat der Betreiber, die Wall-AG, eine Holzplatte angeschraubt mit dem Hinweis: „Wegen Gefahr des Einfrierens geschlossen“. Eine Graffiti-Reaktion eines enttäuschten Kunden darauf lautet: „Please open this gate!“ Aber das ist nicht nötig; an diesem Wintertag ist der Platz in Kreuzberg wie leergefegt, nur ein paar Kinder spielen an den Schaukeln und Klettergerüsten in seiner Mitte und Mütter schauen ihnen dabei zu.

Das grüne Klohäuschen ist ein schöner Blickfang und erinnert an die Geburtsjahre des Platzes. Die Häuser rundherum wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert gebaut. 1887 entstand der schmucke Platz nach einem Entwurf des Berliner Gartendirektors Hermann Mächtig. Es war Gründerzeit, die Stadt wuchs rasend schnell, Wohnraum musste her und ein bisschen Grün war Luxus. Anfänglich lebten in der Gegend kleine Leute, Lehrer, Beamte, Handwerker und Arbeiter, viele in Hinterhöfen ohne viel Licht und Komfort und mit Klo auf halber Treppe.

Die ersten öffentlichen Bedürfnisanstalten entstanden 1863 in Berlin. Der Berliner Polizeipräsident Karl Ludwig von Hinckeldey – ordnungsgemäßes Urinieren zu organisieren, war damals noch Polizeisache – weigerte sich anfangs, Gelder für den Bau öffentlicher Toiletten zur Verfügung zu stellen. Die Berliner verspotteten ihn dafür und dichteten:

„Ach lieber Vater Hinckeldey, mach uns für unsre Pinkelei, doch bitte einen Winkel frei.“

Vater Hinckeldey gab schließlich nach und unter seinem Nachfolger wurden dann die achteckigen gusseisernen Konstruktionen im Jahr 1878 eingeführt. Die Benutzer gaben ihnen den Spitznamen „Café Achteck“. Ende des 19. Jahrhunderts gab es weit über hundert solcher Einrichtungen in Berlin, kaum ein Dutzend sind erhalten geblieben.

Der Chamisso-Kiez ist eine begehrte Wohnlage. Nach Hausbesetzungen in den 1980er-Jahren wurden die Gebäude im gesamten Kiez umfangreich saniert. Am Chamissoplatz wohnen jetzt vor allem Leute mit Geld – die arme Waschfrau, der der Dichter und Namenspatron des Platzes, Adalbert von Chamisso, in seinem berühmten Gedicht ein Denkmal setzte, kann sich die hübsche Gegend schon lange nicht mehr leisten.

Mietwucher und Vertreibung sind übrigens gar keine so neuen Phänome. In der Solmsstraße, nicht weit weg vom Platz, gibt es eine Gedenktafel: „In diesem Haus unterhielt 1890 der Verein Berliner Wohnungsmiether sein erstes Büro. Um bei einem Wechsel des Hauseigentümers Mieterhöhungen oder Kündigungen auszuschließen, kämpfte er unter dem Motto ‚Kauf bricht nicht Miethe‘ für ein neues, soziales Mietrecht“. Und 1980 erzählte der Regisseur Rudolf Thome in seinem Film „Berlin-Chamissoplatz“ die Liebesgeschichte zwischen einer engagierten Soziologiestudentin und einem Architekten vor dem Hintergrund der Sanierung rund um den Platz und den Widerstand besorgter Anwohner dagegen. 2005 erließ das Bezirksamt schließlich eine sogenannte Erhaltungsverordnung für das Gebiet um den Chamissoplatz, um die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen besser kontrollieren zu können.

Der Druck auf die Mieten ist nicht verwunderlich. Man lebt ruhig am Platz, kaum Autoverkehr, ein paar Cafés gibt es und sonnabends Markt. Natürlich Biomarkt. Und doch sind es nur ein paar hundert Meter und man ist in der Bergmannstraße, mitten im Kreuzberger Trubel mit allem, was ein moderner, globalisierter Großstädter braucht. Hier kann man shoppen oder multikulturell speisen oder in einer der letzten noch vorhandenen Berliner Markthallen zwischen Biogemüse und Neuland-Fleisch an der italienischen Café-Bar Espresso trinken.

Den attraktiven Namen nach Adelbert von Chamisso erhielt der Platz übrigens schon 1890. Chamisso kam mit seinen enteigneten adeligen Eltern 1792 nach Berlin, Migranten aus der Champagne auf der Flucht vor den französischen Revolutionären. Wohl deshalb trägt ein Literaturpreis für deutschsprachige Migrantenliteratur heute seinen Namen. Der junge Chamisso nahm in Berlin alle möglichen Stellungen an, unter anderem als Page bei Luise Friederike von Preußen im Schloß Monbijou. Eine Büste am Monbijoupark erinnert daran.

Heute ist Chamisso eher als Schriftsteller bekannt, vor allem durch seinen „Peter Schlemihl“, der Geschichte eines Mannes, der für einen Beutel Dukaten seinen Schatten an den Teufel verkauft und zu spät merkt, mit wem er es zu tun hat. Aber Chamisso war auch Naturforscher, segelte um die Welt, kartografierte große Teile Alaskas, beschrieb die Lebensweise der Eskimos und Aleuten, studierte die hawaiische Sprache. Auf Vorschlag Alexander von Humboldts wurde er zum ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt.

Sein Biograf bezeichnete Chamisso einmal als „frühen Bürger Europas“, der „die Gegensätze zweier Nationen erfahren und in seinem Leben zu vereinen“ gesucht habe. Sozial engagiert blieb er immer, sammelte zum Beispiel mit einem Flugblatt Geld für „Mutter Schulz“, eine in Not geratene Berlinerin.

Chamisso wurde 57 Jahre alt. Sein Ehrengrab liegt in der Nähe des Halleschen Tors, nicht weit weg von dem Platz mit seinem Namen.

Thomas Leinkauf

 

81 - Winter 2020