Alle sind schon mal vorbeigefahren, doch kaum jemand guckt näher hin. Dabei hat die Bronzeplastik „Hand mit Uhr“ im Hansaviertel schon Popgeschichte geschrieben – und erfährt immer noch neue Deutungen.
Neulich waren wieder Blumensträuße zwischen die riesigen Finger gesteckt und jemand hat ihre Nägel lila lackiert. Doch sowas nehmen die meisten Passanten nur aus dem Augenwinkel wahr, während sie mit dem Auto über die Kreuzung Altonaer und Lessingstraße fahren. Allenfalls wenn man mit dem Fahrrad auf grünes Licht wartet, gibt es einen Grund, ein bisschen länger zu schauen. Als Fußgängerin führt einen meist nichts an die zugige Ecke beim Tiergarten-Gymnasium. Und so entgeht einem dieses kuriose Kunstwerk namens „Hand mit Uhr“, das seit fast fünfzig Jahren im Hansaviertel steht und eine bewegte Geschichte hat: Eine 4,5 Meter große, naturalistische Hand schwebt scheinbar in der Luft und greift von oben nach dem Betonsockel, auf dem die Plastik steht. Am Handgelenk zeigen die leuchtenden Zahlen einer Digitaluhr die echte Zeit an.
Geschaffen wurde die Plastik von dem Berliner Bildhauer Joachim Schmettau. Der Senat hatte sie bei der Erweiterung der damaligen Menzel-Oberschule als künstlerische Aufwertung des Ensembles in Auftrag gegeben. In den Jahrzehnten danach schrieb sich Schmettau, der Bildhauerei an der Hochschule der Künste lehrte, noch mit zwei weiteren Werken in das mehr oder weniger bewusste Bildgedächtnis Berlins ein: Der heute 85-jährige schuf 1983 auch den Wasserklops am Breitscheidplatz und 1984 das „Tanzende Paar“ mitten auf dem Herrmannplatz. „Die Hand mit Uhr“ als Schmettaus erstes Werk im öffentlichen Raum wurde 1975 eingeweiht und erinnert in ihrer Bildsprache noch stark an die hyperrealistische Airbrushkunst der 1970er-Jahre.
Je dichter man direkt davor steht, desto weniger kommt die künstlerische Autorität der Hand auf dem Betonsockel zur Geltung. Ein wenig zu leicht fügt sie sich in das klobige Ensemble der schmucklosen Betonfassaden der Umgebung ein. Vielleicht fiel sie darum seit den Achtzigerjahren immer wieder Vandalen zum Opfer. Doch auch Materialschäden setzten ihr zu. Die namensgebende Uhr – damals noch weiß mit schwarzen Zahlen – fiel schon nach wenigen Jahren aus und wurde mit einer Stahlplatte ersetzt. Das tragende Stahlgerüst im Innern begann, sich aufzulösen. Die Stadt selbst ließ das Kunstwerk immer weiter verfallen. Erst 2008 setzte sich die damalige Schulleiterin mit einer Bürgerinitiative für die Rettung ein und die Hand kam in die Restaurierungswerkstatt. Seit 2012 ist sie wieder am Platz. Die modernisierte Uhr leuchtet jetzt rot und die kleinen Terrakottafliesen, die den oberen Teil des Sockels ursprünglich verkleideten, sind durch einen pflegeleichteren Betonputz ersetzt. Wenn sich zu viele Schmierer drauf verewigen, wird einfach übermalt.
Noch immer läuft man oft achtlos an der „Hand mit Uhr“ vorbei. Dabei entgeht einem, was oft bei Unscheinbaren gilt: Die Hand ist enorm fotogen und hat ihren Platz in der globalen Popgeschichte. 1983 stellten sich nämlich die vier damals noch blutjungen Musiker der britischen Popband Depeche Mode im Video zum Song „Everything counts“ an der Skulptur auf und ließen sich im dystopischen Winkel von unten mit ihr filmen. Dazu waren im Lied die Zeilen „Grabbing hands/grab all they can“ zu hören – gierige Hände greifen nach allem, was sie kriegen können. Das stand nicht nur für die New Wave-typische Ästhetik dieser Band, sondern auch für ein Lebensgefühl dieser Jahre, das zu ahnen begann, was in einer globalisierten Zukunft auf uns zukommen würde. Als Bandmitglied Andrew Fletcher im Mai 2022 in London überraschend starb, schmückten Fans in Berlin die Skulptur ihm zu Ehren mit Blumen und bemalten die Fingernägel der Hand.
Joachim Schmettau selbst hat sich nicht zur Bedeutung seines Werks geäußert – und gerade darum gibt es auch heute noch Anlass, sich damit auseinanderzusetzen. Dabei entstehen immer wieder neue Deutungen, die auch die Veränderung der Stadt und ihrer Bewohner dokumentieren. An einem Diskussionsabend über Stadträume in der nicht allzu weit entfernten Schweizer Botschaft schilderte ein Literaturprofessor aus Syrien seine Interpretation des Kunstwerks. Kurz zuvor hatte er es zufällig auf einem Stadtspaziergang entdeckt und für sich sofort verstanden: Es muss die Hand eines Diebes sein, die ihm als Bestrafung, wie im arabischen Raum üblich, abgehackt wurde. Der geographische Zusammenhang erschien dem Neuberliner dabei logisch – schließlich ist das Gefängnis Moabit nur ein paar Minuten entfernt.
Susann Sitzler