Es gibt so viel, was wir an Tegel vermissen werden. Nicht nur architektonisch war der Flughafen Otto Lilienthal einzigartig: 1974 auf dem Gebiet von Tegel eröffnet wurde er im internationalen Flugnetz als TXL bekannt. In der außergewöhnlichen, sechseckigen Anlage des Hauptterminals war Tegel so souverän und elegant, wie es Berlin als Mauerstadt an einigen Stellen sein konnte. Und mit seiner schweren Betonpatina gleichzeitig auch so schroff und bald an manchen Stellen schraddelig, wie es seit jeher auch zum Wesen der Stadt gehört und ihren zähen, verwegenen, sich seiner Sonderstellung bewussten Glamour nährt.
Einmalig waren die kurzen Wege zum und im Flughafen. „Maximal 28 Meter vom Auto zur Abfertigung“ hatten die Architekten, ein noch völlig unerfahrenes, gerade von der Uni kommendes Team um den späteren Stararchitekten Meinhard von Gerkan, vorgesehen. Und so war es. Ansässige genossen die Wohltat, trotz Frühflugs genügend Schlaf zu bekommen, weil die Anfwahrt aus vielen Teilen der Stadt gerade mal eine Viertel- oder halbe Stunde dauerte. Und womöglich auch die gute Laune, die es jedes Mal machte, mit dem Taxi buchstäblich bis auf wenige Meter an den Check-In-Schalter heranfahren zu können. – Jedenfalls im ikonischen Terminal A und wenn man die zunehmende Verkehrsverstopfung auszublenden wusste. Und wenn man nicht zu denen gehörte, die mit dem Bus anreisten und den typischen Anfängerfehler machten, beim Haupteingang von der falschen Seite her zum Abflugschalter einzubiegen und dann scheinbar unendlich – im Sechseck – zu laufen, ohne zum Ziel zu kommen. Berlin-Tegel war ein Flughafen für Eingeweihte. Und für Menschen, die gerne selbst laufen.
Groß war die Enttäuschung, wenn man an der winzig beschrifteten, dynamischen Anzeigetafel an der Zubringerstraße mit zusammengekniffenen Augen gerade knapp entziffern konnte, dass der gebuchte Flug in 2007 für die aufkommenden Billigflieger am, provisorischen Terminal C abgefertigt würde. In dieser anonymen Behelfshalle fühlte sich TXL an wie jeder andere Kleinflughafen irgendwo in den Provinzen der Welt, während man in Terminal A noch beim Check-In den Luxus des Tageslichts genoss. Jedenfalls bevor man sich dann womöglich in einem der verwinkelten, mit absurd platzierten Stuhlreihen wiederfand. Irgendwann komplett vollgestellten Gemeinschaftswarteräume wiederfand, wie sie wegen des immer höheren Fluggastaufkommens eingerichtet werden mussten. Denn ursprünglich war TXL für 2,5 Millionen Fluggäste im Jahr ausgelegt. 2019 wurden 22 Millionen abgefertigt. Die zunehmenden Beschwerlichkeiten in Tegel spiegelten nicht nur den Wandel Berlins von der Mauer- zu Hauptstadt, sondern auch die politischen Ränke um die urbane Infrastruktur.
Seit 2011 die Schließung verordnet war, wurde zugunsten des neuen BER nicht mehr investiert. TXL als Flughafen symbolisierte so auch ein westzentriertes Berlin, das es schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr gab. Auch darum hielten seine Fans daran fest. Wissend, dass es ein Kampf um Zeit sein wird – und weil man so hervorragend über die vielen Macken meckern konnte. Über den beinahe anarchistischen Ablauf an den Taxiständen, wo in den letzten Jahren wild mit den Armen wedelnde Dispatcher erfolglos versuchten, die spärlich eintröpfelnden Taxifahrer davon abzuhalten, Gäste schon am Ende der Schlange aufzunehmen, während die vorne geduldig Wartenden und kaltschnäuzig Stehengelassenen allmählich an der Sinnhaftigkeit der Welt zu zweifeln begannen. Oder denkt man an die unzähligen Taxifahrten zurück mit Chauffeuren, die stundenlang in chaotisch überfüllten Wartearealen auf die Zufahrt zum Taxistand gewartet hatten und dann übellaunig waren, wenn der Gast nach nur 20 oder 30 Euro am Ziel war. Flugpendler verzweifelten gerne am zunehmend gloriosen Scheitern der Abfertigungslogistik. Wenn etwa der Abendflug aus Zürich mal wieder trotz pünktlicher Landung eine halbe Stunde kurz vor dem Ankunftsgate stehen blieb, weil es einmal mehr nicht möglich war, „jemanden zu kriegen, der die Fahrtreppe bedienen kann“, wie der Kapitän jeweils irgendwann resigniert durchsagte. Dann pingten bei den Geschäftsleuten an Bord bereits die Nachrichten auf das Handy. Längst liefen Wetten unter den Stammgästen, manchmal auch über ein paar Sitzreihen hinweg, ob es auch diesmal wieder am selben Punkt hakt wie in den letzten Wochen, Monaten, vielleicht schon Jahren. Oft kamen auch pünktlich nach der Landung schon die mitfühlende Worte der zuhause geduldig Wartenden: „Fahrtreppe schon da…? Essen steht warm.“
Doch kaum jemand, der Tegel schätzte oder sogar liebte, hat ernsthaft damit gerechnet, dass dieser einst so elegante, dann immer krummer und rumpeliger gewordene und doch immer würdevoll und charakterstark gebliebenen Flughafen wirklich irgendwann vom Netz genommen wird. Doch nun ist es soweit und wir müssen Abschied nehmen. Nirgendwo sonst hat es sich so verheißungsvoll angefühlt, in die Welt aufzubrechen und wieder zu Hause anzukommen. Tegel war ein Flughafen für Kenner und Fortgeschrittene und wir werden ihn lange vermissen. Tschüss TXL. Danke für alles!
Susann Sitzler
Information
The Essence of Berlin-Tegel
Taking Stock of an Airport’s Architecture, Peter Ortner, Hardcover
22 x 17 cm, 112 Seiten, 100 farb. Abb., Deutsch/Englisch
ISBN 978-3-86859-631-1