Zwischen Exerzierfeld im Westen und Bahnanlagen im Osten war die Lehrter Straße nie Teil des Hobrechtschen Berlins*; stattdessen entwickelte sie sich zu einem Patchwork aus Militärbauten, Mietshäusern sowie Bauten aus den Sechzigern Jahren. Zu Zeiten der deutschen Teilung lag die Nord-Süd-Straße an der Naht zwischen Ost und West. Ihr Dämmerschlaf endete mit dem Fall der Mauer, denn plötzlich befand sie sich im Herzen der Hauptstadt. Spätestens seit der Eröffnung des Hauptbahnhofs, der ihre Lage zusätzlich begünstigt hat, entsteht neue Architektur, die die Straße im Stadtteil Moabit immer atraktiver macht.
* Mit dem Bebauungsplan der Umgebungen Berlins von James Hobrecht wurde 1862 eine Grundlage geschaffen, auf der die innere Stadt bis heute aufbaut
Neue Architektur verwandelt die Lehrter Straße
Das SOS-Kinderdorf, entworfen von den Berliner Architekten Ludloff Ludloff, vereint hinter seiner geschuppten Fassade auf sechs Geschossen ein Beratungs- und Ausbildungszentrum für Kinder und Jugendliche, die es schwer im Leben haben. Hinzu kommen Tagungsräume und 28 Hotelzimmer sowie ein Restaurant mit Terrasse, das von den jungen Menschen selber betrieben wird. Das kubische Gebäude an der Straßenecke hat im Erdgeschoss eine Glasfassade, aber die Obergeschosse sind teils hinter textilen Sonnensegeln verborgen. Die weißen Glasgewebe bieten Schutz vor Sonnenlicht und Wärme und lassen sich von Hand verschieben. Das Gebäude wurde in Holztafelbauweise errichtet. Im Eingang dominieren Sichtbeton, rot gefärbter Estrich und eine verglaste Lehrküche. Gekurvte Wände und eine geschwungene Treppe ins Obergeschoss zum Konferenzsaal geben den Interieurs Schwung. Zudem gibt es eine zweigeschossige Bibliothek. Farbige Linoleumböden und Wandfarben, von blau über dunkelrot und gelb bis flieder geben dem SOS-Kinderdorf ästhetische Frische.
Den Geschichtspark bildet das Grundstück eines einstigen Zellengefängnisses, das 1958 bis auf einige Beamtenwohnhäuser abgerissen worden war, um Platz für die geplante Westtangente zu schaffen. Die Landschaftsarchitekten Glaßer und Dagenbach haben einen Teil als Landschaft und die andere Hälfte als „Jardin à la française“ gestaltet. Es sollte eine „Gratwanderung zwischen Gedächtnis und Erholung“ werden. Vom Eingang an der Invalidenstraße aus kann man den sternförmigen Grundriss des ehemaligen Gefängnisses gut sehen: Die Zellenflügel scheinen durch ansteigende oder abgesenkte Rasenflächen auf. Ein Gebäudeflügel ist durch Hecken angedeutet. Ein Quader symbolisiert das Panoptikon der Haftanstalt, während die Lage des Verwaltungsgebäudes mit Blutbuchen abgebildet wird. Im Gefängnis befanden sich kreisförmige Spazierhöfe, von denen drei nachgebildet wurden: mit Trittsteinen und einem Wacholder und einem noch aus der Zeit des Gefängnisses stammenden Nussbaum.
Die Groth-Gruppe hat mit den Architekten Sauerbruch Hutton im Jahr 2016 einen Masterplan für das Wohnquartier „mittenmang“ erarbeiten lassen. Die dichte Bebauung bietet etwa tausend Wohnungen in zwei Zeilen zwischen Lehrter Straße und Bahntrasse. Dazwischen liegt eine Kette von fünf grünen Wohnhöfen. Die Gebäude sind in Zick-Zack-Form aufgereiht, sodass die Wohnhöfe schallgeschützt, aber sonnig sind, und der Eindruck einer Barriere vermieden wird. Den Fokus bildet ein Stadtplatz gegenüber des Vorplatzes des Poststadions, an dem ein schmales Hochhaus einen Akzent setzt.
Der Werkhof L57: Moabits Ostteil war seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein Militärstandort. Auf dem Areal befanden sich Garnisonskasernen. Der Exerzierplatz im Zentrum wurde zum „Sportpark Poststadion“. Nördlich davon stand das Corps-Bekleidungsamt mit Werkstätten für Schneider und Schuhmacher, Wohn- und Verwaltungsbauten sowie einer Handwerker-Kaserne. Designer, Künstler, Architekten und Firmen haben das Areal mit einem Projektentwickler erworben und ihm neues Leben als Kreativquartier gegeben. Davon zeugen besonders zwei Neubauten: Das Atelierhaus, das die Berliner Architekten Augustin und Frank entworfen haben, gehört der Künstlerin Katharina Grosse. Es wirkt zunächst wie ein grauer Betonklotz. Im Erdgeschoss befinden sich ein Bildarchiv, eine Bibliothek und das Büro der Künstlerin; im zweiten Obergeschoss ihr Atelier. Die Außenwände zeigen die Spuren einer Bretterschalung. Das Atelier wurde auf Fundamenten eines im Zweiten Weltkrieg zerstörten Vorgängerbaus des preußischen Militärs gegründet.
Direkt nebenan liegt das Wohn- und Atelierhaus, das als Haus 6 bezeichnet wird mit einer verzerrten Fassade aus spiegelnden Edelstahl-Paneelen. Am Königlichen Corps-Bekleidungsamt haben die Architekten Sauerbruch Hutton ein viergeschossiges Haus für zehn Parteien einer Baugruppe errichtet. Mit seiner Kubatur und Dachform vermittelt der Bau zwischen seinen Nachbargebäuden: dem Atelier und einem Backsteinbau mit Walmdach. Mit seiner spiegelnden Metallfassade hebt sich das Haus 6 von beiden ab. Von der Kruppstraße aus scheint die unregelmäßig durch stehende Fenster gegliederte Fassade nahtlos in ein Walmdach überzugehen. Auch die Dachgeschossfenster überwinden die Traufkante, indem sie bodentief eingeschnitten sind. Tatsächlich handelt es sich um eine Mischform aus Mansard- und Walmdach, in das Atelierfenster eingebaut sind. Dadurch hat das Dachgeschoss unterschiedliche Raumhöhen von drei bis fünf Metern. Erschlossen sind die Wohnungen über Laubengänge, die auch als Balkone dienen. Im ersten und zweiten Obergeschoss sind sie zwei Meter breit.
Signet des Hauses ist seine Edelstahlblech-Hülle, die sich über Wände und Dachschrägen zieht. Die vertikalen Bahnen sind fugenlos aneinander gereiht. Durch das Blech, das sich wellt und beult, werden Backsteinfassaden, Bäume und Himmel reflektiert. Zu sehen ist in der Fassade eine neue Nachbarschaft, die den Wandel von einem Kasernenareal zu einem neuen Kreativquartier im Herzen der Stadt im wahrsten Sinnen des Wortes widerspiegelt.
Ulf Meyer