Der Verein Stalinbauten e. V. fiebert auf den Termin hin: Ende des Jahres steht fest, ob die historischen Gebäude der beiden Bauabschnitte der Karl-Marx-Allee zusammen mit dem Hansaviertel für Deutschland als UNESCO-Weltkulturerbe vorgeschlagen werden.
Oftmals als Arbeiterpaläste im Zuckerbäckerstil verspottet, stehen die Bauten der einstigen Stalinallee seit 1989/1990 unter Denkmalschutz. Den für die Zeit überdurchschnittlichen Wohnstandard in der Ost-Berliner Vorzeigestraße bestätigt Achim Bahr vom Verein Stalinbauten e.V.: „Den Aussagen von Zeitzeugen und Erstbewohnern zufolge lebte es sich in der Stalinallee hervorragend. Die einst vorhandene Infrastruktur gibt es zwar nicht mehr, doch auch jetzt noch hat das Leben und Wohnen in der Karl-Marx- und Frankfurter Allee sowie in den angrenzenden Gebieten von Weberwiese und Auerdreieck eine ganz besondere Qualität“. Und in der Begründung des Welterbe-Antrags heißt es auf Senatsseite: „Im Zentrum einer durch Kriegszerstörungen gezeichneten und geteilten Metropole wurden neue moderne Stadtlandschaften geschaffen. Nur in Berlin erfolgte die umfassende Neuordnung nach ganz unterschiedlichen, politisch motivierten, städtebaulichen Leitbildern.“
Im Frühjahr 1950 hatte sich eine DDR-Regierungsdelegation gemeinsam mit Stadtplanern auf den Weg in die Sowjetunion gemacht, um den dortigen Städtebau zu studieren. Auch wenn es hieß, man wolle sich auf nationale Traditionen beziehen, ist doch der Einfluss sowjetischer Baukultur in der Folge unverkennbar. Allein die Straßenbreite von 90 Metern erinnert im Ausmaß an Moskauer Dimensionen. Der sozialistische Boulevard sollte beeindrucken und breit genug sein für propagandistische Aufmärsche.
Waren viele DDR-Architekten noch vom Bauhaus geprägt, so passten sie sich doch schnell den Wünschen der regierenden Partei an. Erstaunlich ist dabei die schnelle Bauzeit, wenn man bedenkt, dass anfangs noch Stein auf Stein gemauert wurde und die Bauarbeiter auf Holzgerüsten standen. So ist das Hochhaus an der Weberwiese, der Entwurf stammt von Hermann Henselmann, in nur neun Monaten fertiggestellt worden. Im September 1951 war Baubeginn, und im Mai 1952 sind die ersten Bewohner eingezogen. Henselmanns Entwürfe wurden stilbildend für die gesamte Allee. Zusammen mit Richard Paulick war er der federführende Architekt und Planer der Stalinallee. Henselmanns Turmbauten am Frankfurter Tor und am Strausberger Platz sind zu städtebaulichen Landmarken geworden. Am Strausberger Platz im Haus des Kindes wohnte er auch selbst, mit seiner Familie, den acht Kindern. Dass von Anfang an auch Streit und Kontroverse das Projekt Stalinallee begleiteten, davon singt Wolf Biermann 1971 in seinem Song „Acht Argumente für die Beibehaltung des Namens Stalinallee für die Stalinallee“. Den Architekten nimmt er jedoch aus der Schusslinie: „Und Henselmann kriegte Haue, damit er die Straße baut. – Und weil er sie dann gebaut hat, hat man ihn wieder verhaut.“
Die Stalinallee war ein Prestigeprojekt. In Parteikreisen war man geradezu trunken stolz auf die neue Prachtstraße und ließ die Baumaßnahmen von Gerhard Puhlmann umfangreich fotografisch dokumentieren. 1953 ist im Verlag der Nation ein großformatiger Fotoband erschienen. Im selben Jahr waren die ersten Bewohner eingezogen. Puhlmann war mit der Kamera in Küche und Bad dabei. Knapp 70 Jahre später ist der opulente Bildband in abgespeckter Form neu publiziert worden. Dafür hatte sich der Verleger Wieland Giebel vom Berlin Story Verlag engagiert. Der Foto-Band erschien noch vor dem Volksaufstand, der sich in diesem Jahr zum 70. Mal jährt.
Am 16. Juni 1953 versammelten sich die Bauarbeiter der Stalinallee vor Block 40 im Rosengarten, um gegen die neue Normerhöhung zu protestieren. Sie sollten von heute auf morgen 10 Prozent mehr leisten, ohne jedoch mehr zu verdienen. Auf die erste Arbeitsniederlegung folgte in der DDR eine Welle von Streiks und politischen Protesten, bei denen freie Wahlen sowie der Rücktritt der Regierung gefordert wurden. Von sowjetischen Panzern blutig niedergeschlagen, blieb der Aufstand, bei dem mindestes 55 Menschen zu Tode kamen und etliche viele Jahre inhaftiert wurden, lange die erste und einzige Protestaktion in der noch jungen DDR. In der Bundesrepublik wurde der 17. Juni von 1954 an zum Nationalfeiertag und ist seit der Wiedervereinigung weiterhin Gedenktag. Im Rosengarten erinnert eine Gedenktafel an die Ereignisse vor 70 Jahren.
Mit der Umbenennung der Stalinallee 1961 in Karl-Marx-Allee änderte sich im zweiten Bauabschnitt auch der Stil. Man bezog sich wieder stärker auf die klassische Moderne. Nach Entwürfen von Josef Kaiser und Heinz Aust entstanden in den frühen 1960er-Jahren die beiden größten Kinos Ost-Berlins, das Kosmos und das International. Letzteres soll ab Ende 2023 grundlegend saniert werden, auch mit beträchtlichen Mitteln aus dem Denkmalschutz-Sofortprogramm des Bundes. Zum Ensemble gehören das Café Moskau sowie mehrere Glaspavillons. Legendär gewesen ist die Mokka-Milch-Eisbar. Weil ursprünglich elf Pavillons geplant waren, hat der Stadtbezirk Mitte vor einigen Jahren ein Werkstattverfahren angestrengt, um den fünf alten sechs neue Pavillons an die Seite zu stellen. Drei Architekturbüros, Kawahara Krause aus Hamburg, AFF und mghs Architekten aus Berlin, wurden mit den Planungen beauftragt. Mittlerweile gibt es bereits Interessenten für die neuen Räumlichkeiten.
Karen Schröder