Das Thema spaltet die Geister. Während im Osten Berlins gestritten wird, ob die A100 nach Friedrichshain verlängert werden soll, wird im Südwesten der Stadt die Diskussion um den Rückbau von Autobahnabschnitten vorangetrieben. Die autogerechte Stadt gilt den meisten Politikern und Planern als Auslaufmodell.
So haben sich die Berliner Regierungsparteien SPD, Grüne und Linke im Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass die Tage von zwei Stadtautobahnen im Südwesten Berlins gezählt sein sollen. Konkret heißt es dort: „Dazu gehört in Abstimmung mit dem Bund die Aufnahme der Planung des schrittweisen Rückbaus der A103 und A104.“ Während im Fall der zu einem Ast der A100 umgewidmeten A104 die Planungshoheit mittlerweile großenteils beim Land liegt, ist für die A103 der Bund zuständig. Das macht die Sache nicht leichter, denn von dort wurde bereits signalisiert, dass man die A103 derzeit für unverzichtbar hält.
Für die marode gewordenen Betonbauwerke der beiden Autobahnen geht es derzeit um eine Grundsatzentscheidung: sanieren oder abreißen. Der Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin-Brandenburg e.V. nahm das zum Anlass, ein entsprechendes Modellprojekt aus der Taufe zu heben. Gegenüber „Entwicklungsstadt Berlin“ sagte der AIV-Vorstandsvorsitzende Tobias Nöfer: „Angesichts der Klimakatastrophe einerseits und der Unwirtlichkeit unserer Städte andererseits, denen durch die Automassen jede Aufenthaltsqualität fehlt, müssen wir mit aller Kraft Wege finden, wie wir vor allem mit intelligenten, innovativen und ökologisch verantwortbaren Lösungen weitermachen.“
Der Architekt Robert Patzschke, AIV-Vorstandsmitglied, erarbeitete in einer städtebaulichen Studie für die einzelnen Teilbereiche der Autobahn erste Vorschläge. In Visualisierungen zeigt er, welcher Zugewinn bei einem Rückbau der Autobahn zu erwarten wäre. Neues Bauland könnte entstehen, ein Potenzial für gut 6 000 neue Wohnungen. Die Entsiegelung von Betonflächen brächte zusätzlich ökologischen Nutzen. Weil die Aufgabe eine gewaltige planerische Herausforderung darstellt, ist auch der aktuelle Schinkelwettbewerb des Architekten- und Ingenieurvereins mit dem Projekt befasst. Das Motto lautet: „Stadt statt A104“. Im März 2023 sollen die Ergebnisse vorliegen. Sollte der Rückbau später endgültig beschlossen werden, wäre ein internationaler städtebaulicher Wettbewerb der nächste Schritt.
Die Geschichte der Berliner Stadtautobahnen ist lang. Schon Hitlers Architekt Albert Speer hatte einst in den 1930er-Jahren die autogerechte Stadt auf dem Reißbrett entworfen. Er konzipierte zusätzlich zu dem Berliner Ring einen zweiten Ring in der Innenstadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Planungen wieder aufgenommen und in den 1950er-Jahren mit dem Bau der Stadtautobahn A 100 begonnen. Ein Netz kreuzungsfreier Autotrassen sollte zusätzlich die Stadt durchziehen. So sahen es die Planungen bis Ende der 1970er-Jahre vor. Man träumte von Tangenten in alle vier Himmelsrichtungen. Sogar für die Anbindung des Ostteils hatte man einen Plan. Realisiert wurden von 1968 an schließlich einzelne Abschnitte der A103 und der A104. Die beiden Autobahnen verbinden den Stadtring A100 mit dem Berliner Stadtteil Steglitz.
Die A103 ist knapp vier Kilometer lang und führt vom Kreuz Schöneberg durch Friedenau nach Steglitz. Mit drei Kilometern etwas kürzer ist die einstige A104. Sie verläuft vom Kreuz Wilmersdorf zur Schildhornstraße in Steglitz. Seit 2006 wird sie als Ast der A100 geführt. Zwischen den Anschlussstellen Mecklenburgische Straße und Schildhornstraße ist sie behördlich „Straße 1. Ordnung mit Autobahncharakter“. Hier ist das Land Berlin zuständig.
Gegen die autogerechte Verkehrspolitik des Senats regte sich im Westteil der Stadt seit Anfang der 1970er-Jahre auch Widerstand. Schneisen, die brutal Wohngebiete durchschneiden, wollte man nicht vor der Haustür haben. Man wollte Grün, und man wollte Spielplätze. Die Argumente von damals sind weitgehend die sozialen und ökologischen Argumente von heute. Bürger schlossen sich seinerzeit in Gruppen zusammen. Besonders aktiv war man in Schöneberg. „Grüntangente statt Westtangente“ hieß der Slogan der Bürgerinitiative Westtangente, einer der ältesten Bürgerinitiativen der Stadt. Und man war erfolgreich. Die „Rote Insel“ in Schöneberg konnte so gerettet werden.
Eine mittlerweile unter Denkmalschutz stehende Besonderheit auf der ehemaligen A104 ist die Umbauung der Autobahn im Bereich Schlangenbader Straße. Hier ist mit der so genannten „Schlange“ eine einzigartige „Wohnmaschine“ entstanden. Von den Architekten Gerhard Heinrichs, Gerhard Krebs und Klaus Krebs wurde von 1976 bis 1982 diese besondere Wohnanlage mit etwa 2 200 Wohnungen direkt über der Autobahn erbaut. Auf fast 600 Metern Länge entstand Berlins größter zusammenhängender Wohnkomplex mit Terrassenhäusern und einem darüber liegenden mehrgeschossigen Wohnriegel. Zur Überbauung einer Autobahnanlage hatte sich die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Degewo entschlossen, weil der Baugrund in der Inselstadt West-Berlin knapp war. Die „Schlange“ wurde zum baulichen Prototyp. Hier konnte der Nachweis erbracht werden, dass es technisch möglich ist, die Autobahn durch zwei statisch und akustisch vom übrigen Bauwerk getrennte Hohlkästen durchzuführen. Sollte ein Rückbau der Autobahn erfolgen, muss auch für die Tunnelröhren eine Lösung gefunden werden.
Der Breitenbachplatz, gelegen zwischen Friedenau und Dahlem, ist einer der schönsten Plätze der Weimarer Zeit in Berlin. Einst pilgerte man hierher zur Fliederblüte. Das Knappschaftsgebäude des Architekten Max Taut ist ein architektonisches Highlight. Doch die 1980 eingeweihte Überbauung des Platzes durch die A104 zerstörte das Ensemble. Am Breitenbachplatz fordert deshalb eine Bürgerinitiative seit Jahren eine Veränderung der städtebaulichen Situation. Gefordert wird vor allem der Abriss der Brücke über dem Platz. Der Senat gab eine entsprechende Machbarkeitsstudie in Auftrag. Die Ingenieursgesellschaft Hoffmann-Leichter und Gruppe Planwerk als Unterauftragnehmer legten 2021 erste Ergebnisse vor. Für Robert Patzschke ist ein Manko der Studie, dass das Problem zu isoliert betrachtet wurde. Man müsse vielmehr die Stadt- und Verkehrssituation umfassender in den Blick nehmen. Stichwort Mobilitätswende.
Dass es nicht in jedem Fall um Abriss gehen kann, zeigt das Beispiel des Steglitzer „Bierpinsel“. 1976 als Turmrestaurant an der Steglitzer Schlossstraße eröffnet, ist er eine wichtige Landmarke im Südwesten Berlins. Als ikonisches Bauwerk der autogerechten Stadt steht der Turm unter Denkmalschutz. Durch den Wegfall der Autobahn-Brücke und der Rampen könnte ein attraktiver Promenadenplatz entstehen. Der „Bierpinsel“ hätte dort einen großen Auftritt.
Karen Schröder