Es gibt in Berlin viele Bezirke, die von Einheimischen und Besuchern verkannt werden. Lichtenberg ist einer davon – doch eine neue Dauerausstellung im Stadthaus verhilft zu einem neuen Blickwinkel.
Lichtenberg, das klingt für manche Ortsfremde vielleicht nach Plattenbautristesse, düsteren Straßen und allenfalls noch nach dem skurrilen vietnamesischen Markthallenkonglomerat „Don Xuan Center“, wo man neben grellbunten Plastikwaren Zigaretten aus unklaren Quellen und authentisches asiatisches Essen bekommt. Doch diese Klischees sind weit weg, wenn man am Nöldnerplatz aus der S-Bahn steigt und nach wenigen Schritten im idyllischen Kaskelkiez mit seinen sorgfältig sanierten Gründerzeitfassaden steht. An dessen lauschigem Herz, dem Tuchollaplatz, befindet sich das Stadthaus Lichtenberg, wo vor kurzem eine neue und spannende Dauerausstellung über Lichtenberg eröffnet wurde. Sie bietet einen sehr zeitgenössischen Ansatz, sich intensiver mit Vergangenheit und Gegenwart dieses spannenden Bezirks zu beschäftigen. Die Ausstellung mit dem Titel „Was? Wo? Wer? – Lichtenberg Wow!“ zeigt zwar im Stil eines Heimatmuseums ganz traditionell altertümliche Objekte und referiert Geschichte mittels Karten und alter Fotos. Doch werden diese in einen größeren Kontext gesetzt: Alles, was zu sehen ist, wird genutzt, um die Geschichten der Menschen zu erzählen, die hier ihr Leben verbracht haben – und um deren Einfluss auf die Gegenwart und Zukunft zu beleuchten.
Wie viele Berliner Stadtteile ist Lichtenberg aus einem mittelalterlichen Dorf hervorgegangen, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingemeindet wurde. Und zwar mit einem erheblichen Vorteil: Die Steuern waren hier hundert mal geringer als in Charlottenburg. So wurde Industrie angelockt und Arbeitskräfte angezogen. „Das Dorf entwickelt sich in kurzer Zeit zur Fabrikstadt“, heißt es im Museum. Und was wurde hier in rund 90 Jahren nicht alles hergestellt: Feuerlöscher und Hundekuchen, Fasanenfutter und Kunstseide, Bonbons für Diabetiker, Lichtenberger Doppelkorn und Milch in den DDR-typischen Tetrapackungen, Scheuerseife und Kugellager für den Trabant. Der Eierschneider mit seinen typischen Metallsaiten wurde 1909 hier erfunden, millionenfach produziert und bis in die USA exportiert. Viele Exponate in dem Museum kann man anfassen, etwa die aus gesägtem Holz hergestellte, bewegliche Ersatzschuhsole der Nachkriegszeit, die genial aushalf, solange es an Leder fehlte.
Mit der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation durch die Wehrmacht war am 9. Mai 1945 auch das Ende des Zweiten Weltkriegs irgendwie von Lichtenberg ausgegangen, denn die Rote Armee hatte im Ortsteil Karlshorst ihr Hauptquartier und hier fand die Unterzeichnung statt. Kurz darauf siedelte die Stasi ihre Zentrale in Lichtenberg an und bespitzelte von hier aus das ganze Land. Mit dem Fennpfuhl entstand ab 1972 das erste zusammenhängende Siedlungsgroßprojekt der DDR mit Plattenbauten, die Wohnraum für rund fünfzigtausend Menschen boten. In den Achtzigerjahren wurden vietnamesische Arbeitsmi-
granten für Schichtarbeit etwa in den Bekleidungsfabriken angeworben. Als privater Lebensraum standen ihnen jeweils fünf Quadratmeter in einem streng bewachten Wohnheim zu. 1987, zum 750-jährigen Jubiläum der Stadt Berlin, bekamen alle Neuzugänge als Willkommensgeschenk ein kleines Stoffbärchen als Wappentier aufs Bett gelegt. Auch ein solches Exemplar ist in der Ausstellung zu sehen, zusammen mit der Geschichte des Besitzers.
Kuratiert wurde die Ausstellung von der Berliner Ausstellungsmacherin Julia M. Novak, die schon für das Münchner Haus der Kunst, die Autostadt Wolfsburg und den Gasometer in Oberhausen Ausstellungskonzepte entwickelt hat. „You are right here right now“ ist ihr Arbeitsmotto – „Du bist genau jetzt genau hier“. Das passt sehr gut zu Lichtenberg. Mit der Wende brach die Blüte des Bezirks sofort ab. Nach 1990 schlossen so gut wie alle Betriebe, an die zwanzigtausend Arbeitsplätze gingen auf einen Schlag verloren. Viele Alteingesessene zogen weg, nur zögerlich kamen Neuzuzüge. Doch aus den Ruinen ist das neue Gesicht des Bezirks entstanden. Auf dem Gelände des ehemaligen VEB Elektrokohle eröffnete 2005 das Don Xuan-Center, das heute Menschen aus der ganzen Stadt anzieht. Da, wo der Fabrikant James Spratt einst den Hundekuchen erfunden haben soll und jahrzehntelang Tierfutter produzierte, hat sich 2009 mit dem „Sisyphos“ ein legendärer Techno-Club niedergelassen. Spätestens damit war der ehemalige Militär- und Fabrikbezirk auf die Landkarte einer jungen, hedonistischen Bevölkerungsgruppe gesetzt, die als Studierende hier häufig auch noch erschwingliche Wohnungen findet. Direkt daneben lockt neuerdings in einer ehemaligen Verpackungswarenfabrik die multimediale Licht- und Klanginstallation „Dark Matter“ des Lichtkünstlers Christopher Bauder ein neues Publikum nach Lichtenberg. Nur einen kurzen Spaziergang entfernt zeigt der Bezirk dann beim Stadthaus wieder eine ganz andere, idyllische Facette und bietet einen guten Startpunkt für einen Besuch. Lichtenberg lebt – und zeigt zwischen Nöldnerplatz und Rummelsburg seine Geschichte.
Susann Sitzler
Information
Museum Lichtenberg im Stadthaus: „WOW! Lichtenberg“ (Dauerausstellung),
Türrschmidtstr. 24, 10317 Berlin.
Geöffnet Di–Fr 11.00–18.00 Uhr, So 14.00–18.00 Uhr.
Eintritt frei.
www.museum-lichtenberg.de