Verborgene Erinnerung

Die Gegend rund um den 2006 eröffneten Bahnhof Südkreuz ist noch nicht so recht im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Dabei ballen sich hier auf engstem Raum Erinnerungen an gut 150 Jahre deutsche Geschichte. Darauf weist jetzt ein Geschichtsparcours hin.

Es sieht unscheinbar aus, das Haus am Werner-Voß-Damm mit der Nummer 54a. Einige kleine Gewerbebetriebe haben hier ihre Büros, und nur eine Gedenktafel weist auf die schreckliche Vergangenheit des Gebäudes hin: Seine Keller dienten in den Monaten nach Hitlers Machtergreifung 1933 als KZ, in dem die SA-Feldpolizei Oppositionelle und Juden folterte und tötete.
Jahrzehntelang hatte die Vergangenheit des Werner-Voß-Damms 54a im Dunkel des Vergessens gelegen, ehe 1992 Geschichtsenthusiasten den verborgenen Ort ausfindig machten. Jetzt besteht die Chance, dass er noch mehr Menschen ein Begriff wird: Das SA-Gefängnis ist einer der Orte, an deren Vergangenheit seit kurzem ein Freiluft-Geschichtsparcours mit 14 Informationsschildern erinnert. Er führt über das weitläufige Areal zwischen dem Fernbahnhof Südkreuz, dem Werner-Voß-Damm und der Kolonnenbrücke, das auf den ersten Blick lediglich ein ziemlich verwahrlostes Nebeneinander von alten Kasernen, hässlichen Gewerbebaracken, einzelnen Wohnhäusern und ausgedehnten Kleingartenanlagen ist – und auf den zweiten Blick ein faszinierendes Panorama deutscher Militär- und Technikgeschichte entfaltet.

Einst befanden sich hier Felder von Bauern aus dem damals selbständigen Dorf Schöneberg. Der Einschnitt kam 1841, als die Strecke der Berlin-Anhalter Bahn angelegt wurde. In den folgenden Jahrzehnten geriet das Gebiet östlich der Bahntrasse in die Hand des Militärs. So übten die neu gegründeten Eisenbahntruppen hier den Bau von Bahnbrücken. 1892 bezogen sie neue Kasernen, die in der Folge durch weitere (heute unter Denkmalschutz stehende) Militärbauten ergänzt wurden.
Zwischen 1885 und 1901 war auch eine Luftschiffer-Abteilung hier stationiert. Die sorgte am 31. Juli 1901 für eine Sensation: Von der Papestraße aus startete nämlich der Ballon „Preußen“ seine Höhenfahrt, die ihn mit zwei Piloten bis auf 10 500 Meter Höhe führte – das bedeutet bis heute Weltrekord.

Um sich die Ballonfahrt vorzustellen, braucht man viel Phantasie. An anderen Stationen des Parcours dagegen rückt die Vergangenheit ganz nah heran – zum Beispiel beim Tor, das von der General-Pape-Straße zur ehemaligen Militärverwaltung führt. Ein Foto auf der Informationstafel zeigt Herren mit Koffer und Hut, die im August 1914 als Reservisten in den Ersten Weltkrieg ziehen. Und bei genauem Hinschauen stellt man fest: Ja, dieses Tor sieht noch genauso aus wie damals, und das Gebäude rechts neben dem Eingang ist ebenfalls erhalten.
Das ist keineswegs selbstverständlich. Denn wenn die Nationalsozialisten ihre Absichten hätten umsetzen können, hätten die Kasernen der im Rahmen der Germania-Planung vorgesehenen gigantischen Nord-Süd-Achse Platz machen müssen. Dort, wo sich jetzt Kleingärten erstrecken, sah Hitlers Chefarchitekt Albert Speer einen 170 Meter breiten und 120 Meter hohen Triumphbogen vor. Um zu testen, ob der märkische Sand das Riesenbauwerk tragen würde, ließ der Planungsstab 1941 an der Kolonnenbrücke einen Schwerbelastungskörper errichten. 14 Meter hoch, 21 Meter dick und 12 650 Tonnen schwer, sollte er ursprünglich nur einige Wochen erhalten bleiben. Doch er steht noch immer und wird nun sogar zu einer Gedenkstätte mit Aussichtsturm und Informationspavillon hergerichtet. Merkwürdig eigentlich, dass das erst jetzt passiert – ein eindrucksvolleres Monument der nationalsozialistischen Stadtplanung ist schwer zu finden.

Dass überhaupt Bewegung in dieses lange vernachlässigte Gebiet kommt, ist dem vom Bund getragenen Programm Stadtumbau West zu verdanken. Es soll dazu beitragen, dass der neue Fernbahnhof Südkreuz künftig nicht mehr isoliert dasteht, sondern Teil eines vernetzten Stadtgefüges wird. „Zur Aufwertung des gesamten Areals“, sagt Hella Dunger-Löper, Staatssekretärin in der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, „trägt auch der Geschichtsparcours bei.“
Dieser Parcours ist für Entdeckungsfreudige gemacht: Einen ausgeschilderten Weg gibt es nicht; gefragt sind Neugier und der Mut, auch mal einfach voranzugehen, ohne genau zu wissen, wohin der Weg führt. Dann entdeckt man zum Beispiel eine langgestreckte Halle, durch deren Fenster man einen leeren Raum erspäht. Die daneben stehende Tafel klärt auf: Hier befanden sich bis zum Jahr 2000 die Deutschen Orthopädischen Werke, die Prothesen für Kriegsversehrte herstellten.

Auch die Nachkriegsgeschichte hat an der Papestraße ihre Spuren hinterlassen. Mitten auf dem Areal befindet sich eine große Halle, in der bis zur Wiedervereinigung Teile der Senatsreserve lagerten. Die Senatsreserve – zum Beispiel Fleischkonserven und Salz, aber auch Fahrräder und Toilettenpapier – sollte verhindern, dass West-Berlin noch einmal durch eine Blockade durch die DDR unter Druck gesetzt werden würde. Die deutsch-deutsche Teilung fand ihren Niederschlag auch in einem benachbarten Kasernengebäude, in dem in den fünfziger Jahren Flüchtlinge aus der DDR untergebracht waren.
So erschließt sich dem aufmerksamen Betrachter in diesem merkwürdigen Territorium zwischen Imbiss, Tischlerei, Autohandel und Gemüsegarten ein Kaleidoskop deutscher Geschichte. Bleibt zu hoffen, dass künftig auch die Folterkeller des Werner-Voß-Damms 54a, die derzeit nur hie und da im Rahmen von Führungen besichtigt werden können, dauerhaft als Gedenkstätte zugänglich werden.

Emil Schweizer

 

 

Informationen
Das Areal des Geschichtsparcours ist jederzeit frei zugänglich. Für den Streifzug empfiehlt sich ein Begleitheft, das unentgeltlich bei den Bürgerämtern des Bezirks Tempelhof-Schöneberg (Rathaus Schöneberg, John-F.-Kennedy-Platz; Rathaus Tempelhof, Tempelhofer Damm 165; Bürgeramt Lichtenrade, Briesingstraße 6) erhältlich ist.

Führungen im ehemaligen SA-Gefängnis veranstaltet die Volkshochschule Tempelhof-Schöneberg (Telefon: 030/75 603 000). Informationen finden sich unter www.gedenkstaette-papestrasse.de

40 - Herbst 2009
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