Sprichwörtlich werfen große und kommende Ereignisse ihre Schatten voraus. Manchmal auch in unseren Träumen. Zwei geschichtsträchtige Ereignisse prägen in diesem Jahr unser kollektives Erinnerungsbewusstsein: der Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren und der Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren. Über beide wird ausführlich berichtet und reflektiert. Weniger bekannt und kolportiert sind Traumvisionen, die diesen bedeutenden Jahrhundertereignissen vorausgingen.
Da die Traumdeutung zum Kern der Psychoanalyse gehört, haben sich vor allem Sigmund Freud und Carl Gustav Jung, die wohl bedeutendsten Psychoanalytiker des 20. Jahrhunderts, mit der Traumdeutung ihrer Patienten beschäftigt. Jung selbst führte ein Traumtagebuch und hatte im Oktober 1913 Traumvisionen, die ihn im höchsten Maße erschreckten: „Ich sah eine ungeheure Flut, die alle nördlichen und tief gelegenen Länder zwischen der Nordsee und den Alpen bedeckte. Die Flut reichte von England bis nach Russland und von den Küsten der Nordsee bis fast zu den Alpen. Als sie die Schweiz erreichte, sah ich, dass die Berge höher und höher wuchsen, wie um unser Land zu schützen. Eine schreckliche Katastrophe spielte sich ab. Ich sah die gewaltigen gelben Wogen, die schwimmenden Trümmer der Kulturwerke und den Tod von ungezählten Tausenden. Dann verwandelte sich das Meer in Blut ...“ Auf die Frage, was er über die nächste Zukunft des Weltgeschehens dachte, antwortete er kurze Zeit später, er dächte nichts, aber er sähe Ströme von Blut.
Im Juli des darauf folgenden Jahres 1914 begann der Erste Weltkrieg. Nun könnte man einwenden, ein derartiges Jahrhundertereignis warf ohnehin seine Schatten voraus. Doch zum Zeitpunkt des Traumes konnte von dieser sogenannten Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts niemand wirklich wissen. Gleiches gilt für Traumvisionen kurz vor dem Mauerfall vor 25 Jahren. Niemand hatte im September 1989 dieses Ereignis vorausgesehen, welches die Welt nachhaltig veränderte. Doch wiederum sind es überlieferte Träume, die ähnlich wie vor hundert Jahren auf genau das schier Unglaubliche hindeuteten: Vater und Sohn befinden sich in einer alten Scheune. Draußen ist Sturm, sodass sich die Scheune etwas zur Seite neigt, einzustürzen droht. Die beiden klettern nach oben, wollen aus einem Fenster sehen, da lösen sich Balken. Jemand ruft, der Wind wird stärker. Die Elektroleitung zum benachbarten Haus droht abzureißen. Vater und Sohn befürchten einen Kurzschluss und verlassen die Scheune, die sich kaum noch gegen den Sturm halten kann ... Zwei Monate nach diesem exemplarischen Traum fiel am 9. November die Berliner Mauer.
Spielten für die Wissenschaft lange Zeit Träume als „Neuronengeflimmer“ eine eher unbedeutende Rolle, zeigen solche Träume zumindest in eine andere Richtung. So sind für moderne Traumforscher Träume inzwischen eine Art Vorbereiter auf den Wachzustand, das Kommende. Kein Wunder, dass sie von der vagen Traumdeutung zur Traumbeobachtung übergegangen sind. Mittels Hirnscannern sind sie dabei, Trauminhalte von Probanden aufzuzeichnen. Von „Traumrecordern“ ist bereits die Rede, mit denen dann jeder seine eigenen Träume speichern könnte – und dann vielleicht auch zukünftige Ereignisse voraussehen und sich womöglich darauf einstellen kann.
Reinhard Wahren