Rheinsberg – ein Sommermärchen

Friedrich Wilhelm I. wäre bei einem sommerlichen Rundgang durch das heutige Rheinsberg hoch zufrieden. Als der Monarch im Jahr 1734 das im Renaissancestil erbaute Schloss als standesgemäße Bleibe für seinen musisch begabten Sohn und Kronprinz Fritz erwarb, hatte er eine Stätte schöner Künste vor Augen. Doch das befohlene Engagement des Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff zum Studium in Italien und das gleichzeitige Anwerben von Künstlern für die geplante Hofkapelle wäre fast 300 Jahre später wohl kaum noch zu spüren, wenn nicht der Zufall die Familie Matthus in jene Gegend verschlagen hätte.

Durch die Kriegswirren aus der ostpreußischen Heimat vertrieben, wurde der Familie in einem winzigen Dorf nahe Neuruppin ein Neubauernhof zugeteilt. Siegfried, der schon als kleiner Junge mit dem Akkordeon vor der Brust gemeinsam mit seinem Vater zum Tanz aufspielte, entdeckte im Zeichensaal seiner Rheinsberger Schule ein Klavier. Hier brachte er sich, der Noten noch nicht richtig kundig, das Spielen selbst bei.

Als die Klasse von einer Opernaufführung aus Berlin – gespielt wurde Mozarts Zauberflöte – in die Provinz zurückkehrte, wirkte der Junge sichtlich aufgerüttelt. Lange lief er an jenem Tag noch durch die Stadt und die angrenzenden Parkanlagen, doch der Entschluss des damals 17-Jährigen stand unverrückbar fest: Ich werde Opernkomponist.

Ohne so viele Zufälle wären die Besucher im vergangenen Sommer nicht zum 25. Male begeistert gewesen und hätten im Heckentheater, auf dem Schlosshof oder an anderen historischen Spielstätten keinen enthusiastischen Beifall spenden können. Aus Anlass des Jubiläums der Kammeroper spielte man Verdis La Traviata. Inszeniert hatte die Oper Frank Matthus, der ab dieser Saison den Dirigentenstab seines Vaters Siegfried übernommen hat. Jenes Vaters, der durch ein ungeheures Maß an Eigeninitiative einer der berühmtesten Komponisten der deutschen Nachkriegszeit geworden ist und trotz aller Ehrungen rund um den Erdball nie vergessen hat, den Nachwuchs für seine kulturelle Bestimmung entschieden zu fördern. Denn seine Idee der Kammeroper, die Matthus nach reiflicher Überlegung schon in den Endjahren der DDR mit sich herumtrug und die immer ganz hautnah mit seiner Musen-Stadt Rheinsberg verknüpft war, gilt vorrangig der Förderung junger Gesangstalente. „Die menschliche Stimme ist ein unerklärliches Phänomen, darüber hinaus ist sie der Ursprung und das Vorbild aller Instrumente. Die feinsten emotionalen Regungen jenseits der sprachlichen Mitteilung sind durch sie artikulierbar. Der Gesang formuliert das Unaussprechbare“, huldigt Siegfried Matthus der Arbeit der Sänger. Diesen Auftrag des 81-Jährigen führt sein 30 Jahre jüngerer Sohn Frank nun mit der zu Ende gegangenen Jubiläumssaison fort. „Wir erleben hier die glückhafte Verbindung von Natur, Musik und Architektur mit dem Charme junger Stimmen. Diese Worte hat mein Vater formuliert. Und das trifft genau den Kern dessen, was uns an unserer Arbeit so begeistert“, erklärt der Sohn.

Dabei begreifen die Matthus’ Rheinsberg als idealen Ort. Nicht so weit entfernt vom pulsierenden Moloch Berlin, das man in weniger als 100 Minuten mit dem Zug oder dem Auto erreichen kann. Weit genug entfernt von der Hektik des hauptstädtischen Alltags, so dass man in der vermeintlichen Provinz für ein Wochenende, ein paar Tage oder auch nur wenige Stunden entspannen und neben der Natur auch Kultur genießen kann. Rheinsberg bezeichnet Frank Matthus als „reine Schönheit.“ Und er prägt das Bonmot, ganz passend zur Arbeit der Kammeroper: „Mit den Augen gehen wir in die Welt – über die Ohren kommt die Welt zu uns.“

So könnte nicht nur Friedrich Wilhelm I. hoch zufrieden auf den von ihm auserwählten Kulturplatz Rheinsberg schauen. Schließlich wurde das Ensemble nur zu dem Zweck so erschaffen, um der Kultur zu huldigen. Diesem Erbe haben sich Siegfried und Frank Matthus mit solchem Enthusiasmus verschrieben, dass man im Sommer beim 25. Jahrestag der Kammeroper oft schon von den nächsten Jubiläen sprach.

Hans-Christian Moritz

 

64 - Herbst 2015