Zwischen 1848 und 1871 wurden die Grundlagen für den wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland gelegt. Eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum beleuchtet die wirtschaftlichen und mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen dieser meist wenig beachteten Epoche.
Unter der Gründerzeit versteht man in der Regel die Jahrzehnte nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871. Ganz anders definieren Kuratorin Ulrike Laufer und Museumsdirektor Hans Ottomeyer den Begriff: Sie meinen damit die Zeit nach der gescheiterten Märzrevolution von 1848, als eine Vielzahl von Firmen gegründet wurden, die bis heute den Ruf der deutschen Wirtschaft prägen.
Tatsächlich nahmen in den beiden Jahrzehnten nach der Jahrhundertmitte nicht weniger als 295 Aktiengesellschaften ihre Tätigkeit auf. Konzerne wie Thyssen, Krupp, Schering und Borsig entwickelten sich in dieser Zeit zu Unternehmen von Rang. Das Eisenbahnnetz wurde in atemberaubendem Tempo enger geknüpft, und der Kohlebergbau an der Ruhr, in Schlesien und an der Saar schuf die Voraussetzungen für die Industrialisierung. Gleichzeitig entfalteten sich Gründerpersönlichkeiten wie der Bankier Simon Oppenheim und der Erfinder Werner Siemens, aber auch der Genossenschaftspionier Hermann Schulze-Delitzsch.
All diese Entwicklungen stellt das Deutsche Historische Museum in seiner Epochenausstellung an Hand von 750 Exponaten vor allem aus dem Alltagsbereich dar. Da sieht man eine frühe Nähmaschine neben einem hölzernen Barrikadenspiel, das an die gescheiterte Revolution von 1848 erinnert, und ein Porträt von Ernst Litfaß, dem Erfinder der Litfaßsäule, neben einer 1870 gezeichneten Aktie für die Kaisergalerie, die an der Ecke Unter den Linden/Friedrichstraße in Berlin errichtet wurde.
Die sozialen Auseinandersetzungen beziehen die Ausstellungsmacher mittels Dokumenten aus der Geschichte der frühen Arbeiterbewegung mit ein, wobei der Traditionsfahne der deutschen Sozialdemokratie aus dem Jahr 1873 eine besondere Bedeutung zukommt. Wie notwendig soziales Engagement war, zeigt ein 1853 abgeschlossener Arbeitsvertrag der Firma Merck: Demnach betrug die tägliche Arbeitszeit im Winter 14 und im Sommer 15 Stunden!
Im Zentrum der sehenswerten Exposition allerdings steht nicht die Arbeiterschaft, sondern das Bürgertum mit seinen Taten, Triumphen und Träumen. Unbändiger Arbeitseifer und unerschütterlicher Glaube an den technischen Fortschritt prägten eine Generation, die früh das Scheitern politischer Reformen erlebt hatte. Daraus erklärt sich wohl der Drang zu ungehemmter Repräsentation mit ästhetisch gelegentlich nicht unbedenklichen Mitteln.
Doch der offen zur Schau gestellte Luxus war keine Garantie gegen den Absturz. Ein Porträt zeigt den Berliner Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg in stolzer Haltung hoch zu Ross. Nur drei Jahre später, im Gründerkrach von 1873, brach sein Imperium zusammen. Andere Gründer ereilte das gleiche Schicksal – doch den weiteren wirtschaftlichen Aufschwung verhinderte auch diese Krise nicht.
Emil Schweizer
Ausstellung
Gründerzeit 1848–1871.
Industrie & Lebensträume zwischen Vormärz und Kaiserreich
25.4. bis 31.8.2008
Deutsches Historisches Museum –Ausstellungshalle von I.M. Pei
Hinter dem Gießhaus 3, 10117 Berlin