Berlin-Macher Giorgio Carioti

Der Volksmund weiß es schon länger: Wo man hinspuckt, muss man aufwischen. Auch Giorgio Carioti hat das erfahren müssen: Beruflich will er alles werden, nur nicht Gastronom respektive Kneipenwirt. Und so kommt es, dass der gebürtige Genueser in diesem Jahr nicht nur seinen 70. Geburtstag feiert, sondern auch das 35-jährige Bestehen seines wahrlich legendären Live-Clubs „Quasimodo“ in Berlin-Charlottenburg. „Das Leben ist schon verrückt“, lautet sein lakonischer Kommentar. Wir sagen zunächst nur: Herzlichen Glückwunsch!
Ihren Ursprung hat die Erfolgsgeschichte Cariotis im Grunde 1961, als der Absolvent der Schiffschule in Neapel sich auf den Weg nach London macht, um dort Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Wären da nicht der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht und eine Sommerliebschaft namens Mausi gewesen, hätte der damals 26-Jährige vermutlich sein Ziel in England erreicht und dort seinen weiteren Lebensweg beschritten. Doch so macht er einen Umweg über Berlin, um Mausi zu trösten, deren Großeltern seinerzeit in Weißensee wohnen und nach dem Mauerbau vom Westen der Stadt plötzlich abgeschnitten sind. Während die Liebe zu Mausi recht abrupt endet, als da unerwartet ein Verlobter auftaucht, beginnt aber eine neue Liebe, die Liebe zu Berlin, die bis heute hält.
Statt in London nimmt Carioti sein BWL-Studium an der Freien Universität auf, jobbt hier und da und macht immerhin 1975 nach 13 Jahren seinen Abschluss. Zu diesem Zeitpunkt hat er schon längst als Thekenmann im „Quartier von Quasimodo“ eines Freundes angeheuert, einer Studentenkneipe im Keller unter dem Delphi-Kino. Als der Freund den Keller leid ist, springt der frisch gebackene Diplom-Kaufmann ein und übernimmt den Laden. Gleichzeitig hebt er das Niveau mit Jazz, Funk und Blues. „Wir waren einer der ersten Clubs in Berlin, in denen richtig Musik gemacht wurde“, erinnert sich der Jazz-Liebhaber stolz. Damit verärgert er zwar das Stammpublikum, das sich schnell rar macht, legt aber gleichzeitig den Grundstein für den späteren, lang anhaltenden Erfolg.
Mitte der 80er Jahre erreicht das „Quasi“, wie der Jazz-Club liebvoll genannt wird, seine Blütezeit. Größen wie Chet Baker, Art Blakey oder Dizzy Gillespie geben sich die Klinke in die Hand. „Wir haben die Legenden gebracht, die Creme de la Creme des Jazz.“ Über 8000 Konzerte sind es mittlerweile, die unter der Regie des Impresarios des Quasimodo stattgefunden haben – „fast alles große Erfolge, verschwindend gering die Flops“, erzählt er. Und es ist nicht übertrieben, wenn auf der Website steht: Einer der renommiertesten Live-Clubs in Europa, vergleichbar mit dem Jazz Café in London oder dem New Morning in Paris.
Einer der gewiss vielen Höhepunkte ist 1987 der überraschende Auftritt von Prince, den es nach seinem Konzert in der Waldbühne in den Jazz-Keller treibt und der damit eine weltweite Werbung für den bis dahin in der Jazz-Szene durchaus schon berühmten Club macht. Jedenfalls hat kein anderes Ereignis so viel Niederschlag in der internationalen Presse gefunden wie dieser Spontanauftritt, der Carioti noch heute staunen lässt: „Manchmal ist es nicht zu glauben. Aber da strampelt man sich sein ganzes Leben lang ab, um Erfolg zu haben. Und dann kommt da einer und stellt das alles in den Schatten.“
Wenngleich das Quasi immer noch eine gewaltige Anziehungskraft auf die Kundschaft ausübt, sind die ganz großen Zeiten als Jazz-Club doch vorbei. „Auch wir können uns die bekannten Namen nicht mehr leisten“, sagt Carioti, der bis vor zehn Jahren noch jeden Tag geöffnet hatte. Heute heißen die Öffnungstage Mittwoch, Donnerstag, Freitag und Samstag. Und hin und wieder kommen noch zusätzliche Konzerte hinzu. „Früher machte der Jazz 60 bis 70 Prozent des Programms aus, heute sind es noch zehn Prozent.“ Aber auch das Publikum hat sich nach seinen Worten verändert: „In den guten Zeiten sind die Leute mehr weggegangen und haben mehr getrunken. Und es gab nicht so viel Konkurrenz.“ Mit anderen Worten: Das Geld sitzt nicht mehr so locker, und das Jazz-Business hat sich der (Krisen-)Zeit angepasst.
Und auch Carioti hat sich verändert, sprich: ist älter geworden. 35 Jahre lang jeden Tag 15 Stunden auf Achse, das hat seinen Preis. Mittlerweile tritt er etwas kürzer und überlässt einiges seinem Freund und Geschäftspartner Klaus Spiesberger. „Ich genieße es, dass es etwas ruhiger geworden ist“, sagt er. So richtig glauben will man ihm das nicht. Nicht nur, dass sein Herz unverändert am Quasimodo hängt, sondern irgendwie wirkt er auch wie ein Junkie auf Entzug. Die Bestätigung für diese Diagnose lässt nicht lange auf sich warten: „Wenn ich nichts zu organisieren habe, habe ich ein Problem.“ Insofern braucht man also wohl keine Angst zu haben, dass das Quasi und Giorgio Carioti alsbald zum alten Eisen gehören. Wenn man ihn so in seinem Umfeld und Element erlebt, ihn Zigaretten rauchend und Kaffee trinkend sieht und von seinen Plänen reden hört, dann ist klar: Die gemeinsame Geschichte vom Quasimodo und Giorgio Carioti ist noch lange nicht vorbei.
Detlef Untermann
 

43 - Sommer 2010
Kultur