Der Zionskirchplatz

Was wäre eine Stadt ohne ihre Plätze? Manche sind groß, manche klein. Manche berühmt, manche unbekannt. Sie sind quirlige Touristenattraktionen oder lauschige Rückzugsorte für die Stadtbewohner. Plätze in der Stadt haben ihre Geschichte und kleinen Geheimnisse, die es zu ergründen lohnt. Diesmal: Der Zionskirchplatz

Der schmucke Zionskirchplatz auf dem Veteranenberg hat mit 53 Metern eine für Berliner Verhältnisse seltene Höhe. Vielleicht gab das 1861 Wilhelm I., der damals noch preußischer König war, den Ausschlag, genau hier eine monumentale Kirche für die schnell wachsende Gemeinde bauen zu lassen. Dankbarkeit des Königs dem lieben Gott gegenüber soll auch eine Rolle gespielt haben, er war nicht lange zuvor in Baden-Baden einem Attentat entgangen, so stiftete er für den Kirchenbau 10 000 Reichstaler und schoss, als das Geld nicht reichte, später noch einiges nach. 1873, Wilhelm war inzwischen gekrönter Kaiser, wurde die Kirche eingeweiht, der Kaiser fuhr in der Kutsche vor, und auch Reichskanzler Bismarck war anwesend. Seither dominiert der monumentale Bau aus Backstein und Terrakotta sowie gelben Blendsteinen den fünfeckigen Platz. Einmal in der Woche kann man den 67 Meter hohen Turm besteigen. Von hier aus hat man einen weiten Blick über Berlin.

Eigentlich geht es rund um die evangelische Kirche quicklebendig zu: Gleich nebenan liegt die gentrifizierte Szene-gegend rund um die Kastanienallee, aber heute hat der Platz nicht seinen besten Tag. Es nieselt und ein kalter Wind pfeift um die Mauern. Ein Hund verliert sich auf dem weitläufigen Platz, der muss bei jedem Wetter raus. Die sonst proppevollen Kneipen und Cafés sind wegen Corona geschlossen. Ab und zu flüchtet ein Flaneur in die schützende Kirche, die wenigstens ein bisschen wärmt.

Vor dem Kirchenportal steht ein älterer Herr mit einem Schild am Mantel, auf dem „Engel“ steht. Ja, er sei der Engel hier, der Besucher in die Kirche geleitet, sagt der Herr, das mache er schon seit ein paar Jahren. Früher hat er einmal eine Kneipe geführt, das hat er dann gesundheitlich nicht mehr ausgehalten. Das Arbeitsamt hat ihm den neuen Job vermittelt, den er gerne macht, und der „Engel“ weiß wirklich eine Menge über die Kirche.

„Komm’ se mal mit, ich zeig Ihnen den Bonhoeffer“, sagt er und führt den Besucher an die Westseite der Kirche. Dort steht auf dem Rasen seit 1988 ein lebensgroßer Bronzetorso, den der Berliner Bildhauer Karl Biedermann in Erinnerung an den mutigen Theologen schuf: Dietrich Bonhoeffer übernahm 1931 mit 25 Jahren als Stadtsynodalvikar eine als schwierig geltende Konfirmandengruppe in der Zionsgemeinde. Die Arbeit in dem sozialen Problembezirk prägte den aus gutem Haus stammenden Professorensohn, 1932 richtete Bonhoeffer eine „Jugendstube“ für arbeitslose Jugendliche ein, die 1933 von den Nationalsozialisten als „kommunistisch“ aufgelöst wurde. Nach 1933 schloss er sich der Bekennenden Kirche und dem Widerstand gegen das NS-Regime an. 1945 wurde Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg hingerichtet.
Einen mutigen Kirchenmann hatte die Gemeinde auch zu DDR-Zeiten. Pfarrer Hans Simon gab einem „Friedens- und Umweltkreis“ in seinen Kellerräumen vis-a-vis der Kirche Quartier für Veranstaltungen, eine Bibliothek und einen Druckraum, in der er „Umweltblätter“ produzierte, die sich kritisch mit der Lage in der Republik auseinandersetzten. Eine Weile ließen die Behörden sie im Schutz der Kirche gewähren. Aber in der Nacht zum 25. November 1987 durchsuchte die Stasi die Räume und verhaftete Simon zusammen mit anderen Oppositionellen – Ein Eigentor, denn es folgten Mahnwachen, die machten den kirchlichen Widerstand gegen das DDR-Regime auch im Westen bekannt.

Im Innenraum der Kirche spielt ein Mann seit einer Stunde auf der provisorischen Orgel. Verloren sitzen ein paar Besucher in den Bänken und hören andächtig zu. „Ein Klavierlehrer hier aus der Gegend“, sagt der Engel fast flüsternd, „aber nicht ansprechen“, er sei immer so vertieft. Wir lassen ihn allein mit seinem Instrument. Die ursprüngliche Orgel wurde, wie auch das Kirchendach und die Chorfenster, im Zweiten Weltkrieg zerstört. Momentan werden Spenden für ein neues, visionäres Instrument gesammelt, das in seinen Möglichkeiten einzigartig sein soll. Mehrere tausend verschiedenster Pfeifen, manche nur wenige Zentimeter kurz, andere mehrere Meter lang, suchen einen Paten, um das über vier Millionen Euro teure Projekt zu finanzieren. Die Orgel soll 2023 erklingen: zum 150. Jahrestag der Einweihung der Kirche. Dann wird die Kirche mit ihren über 1 500 Plätzen vielleicht einmal wieder richtig voll.

So wie im Oktober 1987, als die Westberliner Band Element of Crime in den Osten kam und in der Kirche vor 2 000 Zuhörern ein legendäres inoffizielles Konzert gab, von dem Leute, die damals dabei waren, noch heute schwärmen. Im Vorprogramm spielte eine ostdeutsche Punk-Band. Die Stimmung kippte gegen 22 Uhr, als 30 Skinheads aus der rechten Szene die Kirche stürmten, auf Besucher einschlugen und sie teilweise schwer verletzen. Draussen auf dem Platz beobachtete eine Gruppe von Volkspolizisten das Geschehen, griff aber trotz Hilferufen nicht ein.

Kaiser Wilhelm und Dietrich Bonhoeffer, die Umweltaktivisten und die Staatssicherheit, das Arbeiterviertel und der Szene-Bezirk, Orgelmusik und Punk – rund um die Kirche ist in den Jahrzehnten eine Menge passiert. Im kalten Winter nach dem Krieg wurden die historischen Fenster aufgebrochen und Kirchenbänke als Brennholz entfremdet. Unter Kriegsschäden und Vernachlässigung leidet die geschichtsträchtige Kirche noch heute, aber manche Narbe steht ihr gut.

Öfter wurde der Platz verändert, nicht immer zum Guten. Vor zehn Jahren ließ der Senat das Areal um die Kirche aufwändig neu gestalten. Jetzt gibt es die ursprüngliche Wege-Führung mit ihren Sichtachsen wieder. Linden und Kastanien blühen wie früher im Frühlingswind.

Thomas Leinkauf

 

85 - Frühjahr 2021