Zwischen Metropolenboulevard und Großstadtkiez

Hier ging Herrn Grundeis der Arsch auf Grundeis, als „Emil und die Detektive“ ihn in die Bankfiliale jagten: am Nollendorfplatz, Ende Kleiststraße. Und wenig später bekam Emil sein Geld zurück – natürlich alles nur fiktiv in Erich Kästners Kinderroman. Dem Nollendorfplatz sieht man seine Legenden nicht an. Zweifelhaft, ob sich Altkanzler Helmut Schmidt mit seiner Loki hier ein zweites Mal verloben würde, wie er es 1942 tat. Der einstige Schmuckplatz ist verschmutzt, deformiert und grau. Dabei ist der „Nolle“ das Tor des Nordens für den gründerzeitlichen Winterfeldtkiez.

Schaut man von hier aus nach Westen, erkennt man in der Ferne Peek & Cloppenburg am Tauentzien. Das Kaufhaus drüben ist eine Perle des Metropolenboulevards der City West, aufgereiht neben einer anderen, dem KaDeWe am Wittenbergplatz. Doch dazwischen, was liegt da? Ein Spaziergang durch die Kleiststraße zeigt einen Ort, der sich verändern wird.

Beeindruckend bescheiden setzt der U-Bahnhof Wittenbergplatz einen Schlusspunkt am östlichen Ende des Tauentziens. Die Botschaft: bis hierhin und nicht weiter. Die vor Kurzem fertiggestellte Promenade auf dem Mittelstreifen des Tauentziens verstärkt den Effekt noch. Aber sie zeigt, was die Zukunft auch für die sich anschließende Kleiststraße sein könnte. Die Taxistände gibt es nicht mehr, dafür einen Ampelgestützten zentralen Fußweg, der über den ganzen Tauentzien entlang von Eibenbeeten führt und Querungen, die es ermöglichen, an jeder Stelle des Boulevards die Straßenseite zu wechseln. Sowas hat nicht einmal der Ku’damm.

Die Welt jenseits des neoklassizistischen Bahnhofbaus von Architekt Alfred Grenander sieht anders aus. Keine Promenade, keine Kaufhausperlen, zunächst nur ein versperrendes Platzgeländer. Es ist der Beginn der Kleiststraße, die zur Volksbildungsstätte Urania führt. Das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg habe ein Büro für Stadtplanung mit einer Machbarkeitsstudie für einen möglichen Umbau der Kleiststraße beauftragt und es untersuche auch die umgebenden Teilräume, sagt Regionalmanager Dirk Spender aus der City West. Die Ergebnisse sollen in ein zwischen Bürgern, der Verwaltung und Immobilieneigentümern abgestimmtes Entwicklungskonzept einfließen. Dafür würden eine Reihe von Gesprächen mit den Anrainern geführt und nach der Sommerpause eine Informationsveranstaltung für die Öffentlichkeit mit Senatsbaudirektorin Regula Lüscher stattfinden.

An der Urania zeigt sich die „autogerechte Stadt“. Das Leitbild der Stadtplaner aus der Nachkriegszeit sah hier früher eine Brücke über die Kleiststraße vor. Heute kreuzt die Straße „An der Urania“ ebenerdig und ist Teil einer der geräumigsten Kreuzungslandschaften Berlins. Ihr Mittelstreifen ist zwischen den Fahrbahnen so breit, dass die Baumgruppen und Büsche wie Ausläufer des nördlich gelegenen Tiergartens wirken. In Zukunft könnten die Bäume verschwinden, die Straßen gebündelt, der Platz vor der Urania vergrößert und die zurückgewonnenen Flächen baulich verdichtet werden. Das jedenfalls ist die Idee der Studenten Lasse Malzahn und Lucas Rauch, die für ihre Arbeit „Urban Picturesque“ 2012 den Peter-Joseph-Lenné-Preis erhielten. Auch ein Gutachten der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt zur Freiraumgestaltung für den Vorplatz der Urania empfiehlt, die von Grün umgebene Skulptur „Arc de 124,5˚“ frei zu stellen, damit das Innere und Äußere der Urania besser miteinander harmonisieren.

Die Kleiststraße lässt die Urania ab hier hinter sich. Und mit Studien, Gutachten und Freiraumwettbewerben ist erst einmal Schluss. Bis zum Nollendorfplatz ist die Kleiststraße sich selbst überlassen – wie Emil, allein im Zug nach Berlin. Ein paar Parkplätze auf dem Mittelstreifen, dann Büsche, Sträucher, Abstandsgrün. Durchschreiten kann man das nicht; was hier wächst, blockiert eine Durchwegung. Dabei sind wir doch auf dem historischen Generalszug unterwegs, dessen nach Feldmarschällen aus den Befreiungskriegen benannte Straßen eine Reihe von Schmuckplätzen miteinander verbanden. Erfüllt die Kleiststraße, benannt nach dem bei Nollendorf und Kulm siegreichen Friedrich Kleist, also noch ihre historische Funktion? Für Flaneure nicht. Dem Fußgänger bleiben nur die Bürgersteige unter den hohen Platanen am Straßenrand. Und dann endet das Grün in der Mitte abrupt. Heraus aus dem Untergrund kommen die gelben Wagen der U-Bahnlinie 2 gefahren und klettern die Trasse zur Hochbahn hinauf, stoppen über dem Nollendorfplatz, Tor des Nordens zum Winterfeldtkiez. Doch der „Nolle“ ist verschmutzt, deformiert und grau.

Rudolf Hampel und ein paar Männer ändern das jetzt. Am Herrentag bepflanzten die Kiezaktivisten der „Gruppe 45+“ Hochbeetbrachen am Nollendorfplatz. Inspiriert durch eine Aktion des „Tagesspiegel“ taten sie es zum dritten Mal: räumten den Müll weg, überzogen die Beete mit Unkrautfolie, legten sie mit Holzhäcksel aus und setzten Katzenminze und Schwertlilien in den Boden. „Rosen funktionieren gar nicht“, sagt Hampel. Die Pflanzen müssten widerstandsfähig sein. Es ist ein Projekt, das vom Bezirksamt mit Sachmitteln gefördert wird. – Ist das ein Bekenntnis des Bezirks für die Rückkehr zum Schmuckplatz?

Ein Wettbewerb mit Architekturstudenten der Technischen Universität 2012 für den „Nolle“ brachte ambitionierte Entwürfe hervor, die einen Rückbau der Verkehrsflächen zuguns­ten des Stadtplatzes vorsahen, zum Beispiel durch einen Kreisverkehr anstelle der unter dem Hochbahnhof liegenden Straßenkreuzung. Auch die Fußgängerbereiche der angrenzenden Blöcke des Kiezes wollten die Studenten durch Querungsmöglichkeiten besser an den Platz anbinden, den Ort „entschleunigen“. Doch das Bezirks­amt äußerte sich wegen der intensiven Kosten eines so umfangreichen Umbaus zurückhaltend. Man müsse mit kleinen Maßnahmen etwas bewirken, sagte Sibyll Klotz (Grüne), Stadträtin für Stadtentwicklung, auf einer Veranstaltung. Wer hat dem Land Berlin eigentlich 63 Milliarden Euro gestohlen? Haltet den Dieb! 

André Franke

 

55 - Sommer 2013
Stadt