Auf einer Spreerundfahrt gibt es jedes Jahr Neues zu entdecken. Aber sie kann auch zum Abenteuer werden.
Keine Ampeln, keine Staus, keine Taxifahrer – an Deck weht eine leichte Brise, manchmal auch ein rauer Wind. Die Schiffe auf Berlins Wasserstraßen chauffieren ihre Gäste in einem Stil, der sie loslöst von den Strapazen des Großstadtverkehrs und ihre Sinne zeitlos macht.
Spreefahrten sind der Klassiker unter den Stadtrundfahrten. Sie erfreuen sich großer Beliebtheit bei Besuchern und Berlinern. Während den Touristen ein Rundumschlag an Sehenswürdigkeiten präsentiert wird, halten Einheimische Ausschau nach Neubauten, wo ein Jahr zuvor noch Baustellen waren. Eine Spreefahrt hält für jeden etwas parat, nicht zuletzt die ein oder andere Überraschung.
Bis zu einer Million Fahrgäste machen nach Angaben der Reederei Riedel jährlich die Brückenfahrt, die über Spree und Landwehrkanal drei Stunden lang unter 64 Brücken hindurchführt und den Gästen die Hauptstadtkulisse mit dem Regierungsviertel zeigt, andererseits aber auch die ruhigeren Gefilde Berlins kennenlernen lässt, den Alltag an den Kanalufern. Da schieben Boulespieler am Paul-Lincke-Ufer eine ruhige Kugel, und am Maybachufer blickt man von hinten durch die Händlerbuden des Wochenmarkts.
Doch die Idylle ist fragil: Flatsch, liegt ein toter Karpfen auf dem Deck. Hilke Traebert erzählt von der Schrecksekunde, die sie als Live-Moderatorin auf der Brückenfahrt erlebte. „Er roch schon“, sagt sie. Niemand hat gesehen, wer ihn da hingeworfen hat.
Glück muss man haben, um sowas zu erleben! Andere perspektivische Schmankerl, die der erfahrene Spreefahrer ganz gezielt ins Visier nimmt, stellen sich dagegen verlässlich immer wieder aufs Neue ein: Wie der Fernsehturm sich beim Einbiegen in die Oberschleuse zwischen die Türme der Oberbaumbrücke schiebt oder das Kanzleramt beim Passieren des Budesbandes durch das Paul-Löbe-Haus durchscheint. Nur das Timing ist wichtig – wie beim Karpfenwurf.
Knapp 40 Reedereien schicken ihre Fahrgastschiffe wieder auf die rund 190 Kilometer schiffbaren Wasserwege in Berlin. Die Reederei Riedel ist nach der „Stern und Kreis“ die zweitgrößte der Stadt und ein in Kreuzberg gegründeter Familienbetrieb. Was im Urbanhafen 1971 ganz klein begann, wuchs über mehr als 40 Jahre zu einer Reederei mit insgesamt 15 Schiffen, 38 Anlegestellen und saisonal bis zu 140 Mitarbeitern heran. „Ich bin stolz auf die Jungs“, sagt die Kassiererin H. Reckert in ihrem Häuschen am Märkischen Ufer und meint die Geschäftsführer Stefan und Lutz Freise. Sie kauften die Reederei 1996 und haben das Unternehmen auf Modernisierungskurs gebracht. So veröffentlichte Riedel 2010 als erste Berliner Reederei einen Nachhaltigkeitsbericht: Alle Produkte kommen aus der Region. Ob das auch für die Drinks bei der „Kriminellen Whiskey-Verkostung“ im September gilt, kann man bei dem Special-Event, das nur eines von vielen in der Saison 2014 ist, am Tresen einmal selber in Erfahrung bringen.
Für hiesige und auswärtige „Wiederholungstäter“, alte Spreehasen also, gibt es in diesem Jahr viel Neues zu sehen: Das Humboldtforum wächst am Schlossplatz, der „Mörchenpark“ des „Holzmarkt“-Projekts gedeiht, wo einst die legendäre Bar 25 starb. Der Hauptbahnhof wird von einem Stadtquartier eingebaut, was die Geschichte vom verstümmelten Ost-West-Dach für Spreefahrt-Moderato-ren zu einer alten Kamelle macht. Auch Hilke Traebert wird vermutlich einiges umerzählen in der neuen Saison. Gleich bleibt ein tief sitzender Menschenreflex – der ist spreefahrt-spezifisch und leicht auszuprobieren. Möglich, dass seine Entstehung mit dem Überlebenskampf auf hoher See zu tun hat. Menschen, die Schiffe sehen, winken. So erzählt Traebert von einem Mann am Kreuzberger Ufer, der in Handschellen stand, vormittags am ersten Mai. „Der Punk“, sagt sie, „riss die Hände hoch“, als er das Schiff mit den Gästen sah. Und die Gäste winkten zurück. Eine Spreefahrt, die ist lustig … die ist schön.
André Franke