Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Maaßenstraße in Schöneberg ist Berlins erste Begegnungszone. Und sie ist ein Experiment. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt hat mit Unterstützung des Bezirks Tempelhof-Schöneberg die Straße zwischen Nollendorfplatz und Winterfeldtplatz so umgebaut, dass die Fußgänger mehr Raum haben. Damit setzt der Senat ein Pilotprojekt seiner 2011 beschlossenen Fußverkehrsstrategie um – eine Strategie, die das Zufußgehen in der Stadt befördern soll. Schon jetzt sind Fußgänger mit 31 Prozent am Modal Split (2013) das stärkste Verkehrsmittel in Berlin. 

Was bedeutet und wie funktioniert eine Begegnungszone?

Eine Begegnungszone ist ein Begriff, der in Deutschland nicht amtlich ist. Vergeblich sucht man ihn in der Straßenverkehrsordnung. Großes Vorbild der Idee: die Schweiz. Und dort heißt sie auch so. Auch in Frankreich gibt es sie, dort mit entsprechendem Verkehrszeichen. Aber in Deutschland weigere sich der Verkehrsminister, ein eigenes Schild einzuführen, sagt Horst Wohlfahrt von Alm, Referatsleiter für Straßen- und Platzgestaltung in der Senatsverwaltung. Berlin improvisiert daher und setzt an die Eingänge der Maaßenstraße grünfarbige (nichtamtliche) Eingangsportale. Sie signalisieren dem Autofahrer den Beginn der Begegnungszone und haben einen Wiedererkennungswert. Denn Begegnungszonen soll es in Berlin bald viele geben: in der Bergmannstraße und am Checkpoint Charlie. „Wir lassen uns vom Verkehrsminister nichts vorschreiben“, sagt Wohlfahrt von Alm. 

Innerhalb der Maaßenstraße sieht es jetzt so aus: Eine Fahrgasse für Autos und Radfahrer schlängelt sich durch den Straßenraum. Sie kann in beide Richtungen befahren werden. Aber sie ist so schmal, dass die Autos bei Gegenverkehr nur sehr langsam aneinander vorbei- können. Maximal dürfen sie ohnehin nur 20 km/h fahren. Auf der einen Seite der Fahrgasse liegt der herkömmliche Bürgersteig, auf der anderen Seite erstreckt sich der neu geschaffene Raum für die Fußgänger mit Bänken, er umfasst die Hälfte der früheren Autostraße. Parkende Fahrzeuge gibt es nicht mehr. Nur Lieferwagen bekommen Platz, um die Geschäfte und Restaurants zu versorgen. Querungsstreifen ermöglichen den Fußgängern an mehreren Stellen, auf die andere Straßenseite zu gelangen. Ziel der Begegnungszone ist es, den Verkehrsraum gerechter aufzuteilen und das Miteinander der Verkehrsarten zu verbessern.

Anwohner skeptisch bis überzeugt

Die Anwohner sehen das Projekt eher skeptisch. Einer befürchtet, es kämen keine Besucher mehr in die Maaßenstraße, weil es keine Parkplätze mehr gibt. Der Wegfall der insgesamt 45 Parkplätze scheint überhaupt das Hauptärgernis im Nollendorfkiez zu sein. Doch der ruhende Verkehr ist eine echte Barriere. Wohlfahrt von Alm erklärt, die Begegnungszone solle auch die Verkehrssicherheit erhöhen. Um die Fußgänger-Querungen sicherer zu machen, müsse man Sichtkontakt zwischen den Autofahrern und Fußgängern schaffen. „Bisher stand da Blech dazwischen“, sagt er. 

Auch haben die Bauarbeiter den Menschen in der Maaßenstraße einen attraktiven Zebrastreifen genommen. Zum Winterfeldtplatz führt jetzt nur noch ein „Querungsstreifen“. Auf ihm haben die Fußgänger aber keinen rechtlichen Vortritt. Für sie bedeutet das erstmal einen Rückschritt. 

Reaktivierung nicht ausgeschlossen

Hier zeigt sich der Experimentiercharakter des Projekts. Der Zebrastreifen ist unter der neuen grünschwarzen Pflasterung verschwunden, aber das außer Kraft gesetzte Beleuchtungsschild hängt noch oben am Bogenmast. Es bleibt für den Fall der Reaktivierung und wird nicht abgebaut, wie Daniel Krüger vom Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg erklärt. Der Blog „Nollendorfkiez“ wundert sich in einem Beitrag, warum aus dem nutzlos gewordenen Mast keine Kinderschaukel gemacht werde. Die Begegnungszone sei eben erstmal „ein Pilot“, sagt Krüger. Und: „Die eigentliche Arbeit beginnt, wenn die Straße steht.“

Manche reagieren dagegen positiv. In der Nollendorfstraße gleich nebenan hatte das Künstlerpaar Sofia Camargo und Thomas E. J. Klasen ein offenes Atelier aufgeschlagen. Hier bemalten sie zusammen mit Passanten kniehohe Quadersteine – ein Kunstprojekt, für das im Rahmen der Begegnungszone ein Wettbewerb ausgelobt wurde. Heute grenzen die Quader die Fahrgasse vom erweiterten Bürgersteig ab, visuell und baulich. Sofia Camargo nennt das: „Eine Landschaft bauen in der Mitte der Straße.“ Es ist das auffälligste Element in der neuen Begegnungszone. Ihre Gestaltung soll eben auch selbst erklärend sein. Mehr als das ist sie in der Maaßenstraße durch die Straßenkunst auch identitätsstiftend.

Das Kiezatelier entpuppte sich während der Bauarbeiten als echter Kommunikationsraum. Die Schöneberger Graffity Crew „One Love“ gestaltete etwa die Hälfte der 66 Quader mit Wassermotiven, nennt sie den „Walk of Freedom“. Und ein Gitarrist, der öfter zum Atelier kam, hat über die Quader sogar ein Lied geschrieben. Die Künstler hätten so bei Teilen der Kiezbevölkerung mit dem Quaderprojekt einen Sinneswandel herbeigeführt, sagt Camargo. Manche, die da kamen und nicht malen konnten oder mochten, hinterließen auf den Steinen farbige Fuß- und Handabdrücke. Die Anmeldeliste für die Bemalung der letzten 22 Steine war schon vor ihrer Anlieferung voll. „Es ist offensichtlich, dass die Leute in den öffentlichen Raum zurückkommen“, sagt Künstler Klasen. Sie wollten jetzt sogar die Nollendorfstraße verschönern. 

Folgeprojekt Bergmannstraße

Anfang Oktober wurde die Begegnungszone in der Maaßenstraße schon mal offiziell eröffnet. Dabei ist sie noch nicht ganz fertig. Die Restarbeiten, schätzt Daniel Krüger, dauern bis Jahresende. Dann wird man in der Bergmannstraße in Kreuzberg mitten in der Bürgerbeteiligung sein. Die Straße wird Berlins zweite Begegnungszone. Mit einem halben Kilometer ist die Bergmannstraße allerdings etwa doppelt so lang wie die Maaßenstraße. Sieht aus, als würden bald wieder Quader gebraucht.

André Franke

64 - Herbst 2015
Stadt