Architektur der lebendigen Stadt

Berühmt geworden vor allem durch das filigrane Zeltdach des Münchner Olympiastadions verlieh man dem Architekten Frei Otto posthum den Pritzker-Preis, den Nobelpreis der Architekten. Auch in Berlin hat er Spuren hinterlassen. In Tiergarten wurden im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 1987 Maisonette-Wohnhäuser errichtet, die jeweils Einzelbauherren und ihre Architekten individuell geplant haben: die Ökohäuser vom Landwehrkanal. Wie lebt es sich heute dort?

Hinter dem grauen Eisentor, das sich summend öffnet, führt ein Pfad zu den Mülltonnen. Ein anderer verläuft geschwungen unter dem Blätterdach hoher Bäume entlang und bringt die Bewohner und Besucher der Corneliusstraße 11 und 12 in Berlin-Tiergarten tiefer in den exklusiven Großstadtdschungel. Die Ökohäuser stehen hier, von Efeu umrankt und von 38 Menschen bewohnt.

Einer von ihnen ist Manfred Ruprecht. Als er 1970 in die Corneliusstraße an den Landwehrkanal kam, war das Grundstück voller Trümmer. Sie stammten von der Nuntiatur, die 1943 von Bomben zerstört wurde. Doch Ruprecht, der Student, kam wegen des Kanals. Er wusch hier seinen Fiat Spider. Eine Treppe führte hinab zum Wasser. Heute halten an der Stelle Fahrgastschiffe, oft fahren sie auch vorbei, weil niemand ein- oder aussteigen will. Dann hört Ruprecht die Live-Moderatoren durchs Mikro sprechen, dies seien die Ökohäuser von Architekt Frei Otto. Das stimme nicht so ganz, sagt Ruprecht. Die 18 Wohnungen in den zwei Ökohäusern seien von neun Architekten gebaut worden. Einer war er selbst. Sogar zum Koordinator haben sie ihn auf der Chaosbaustelle gemacht, wo er zwischen Architekten, Bewohnern und Baufirmen vermittelte. Das Bauprojekt der Internationalen Bauausstellung 1984/87 (IBA) ist eine Kollektivleistung. Von Frei Otto stammt die Idee dazu.

Sich selbst behausen

Frei Otto, der 89-jährig im März dieses Jahres verstarb, antwortete mit den Ökohäusern auf Fragen, die ihn tief bewegten: Wie sieht die lebendige Stadt aus? Wie sieht eine Stadt aus, die nicht durch ihr Material und/oder ihre Planung daran gehindert wird, vernünftig zu sein? Und: Wie kann man als armer Erdenbürger dahin kommen, sich selbst zu behausen?

Architekt Ruprecht hat seine Ökohauswohnung im Urlaub in der Toskana entworfen. Wie alle Mitglieder der Baugemeinschaft war er bereit, finanzielle Risiken einzugehen. Niemand konnte anfangs sagen, wann die IBA-Häuser fertig wären. Mit Bauarbeitern aus Polen und der DDR hat er gearbeitet, hat mitunter draufgezahlt, weil mancher ihn im Stich ließ. Und Manfred Ruprecht hat selbst Hand angelegt, die Fensterfront des Wintergartens gebaut, die Fußbodensteine verfugt. Die letzte Tür hat er vor zwei Jahren eingebaut. Sich selbst behausen, das ist ein Lebensprojekt. 

Dafür braucht man Ausdauer. Erst vor Kurzem, sagt er, habe er draußen vorm Wintergarten den Holzsteig erneuert, über den man in den Garten geht. Das Fichtenholz war durchge-fault. Fertig werden Selbstbauer nie.

Seine Wohnung hat das Flair eines Ferienhauses. Viel Holz, Lehm, braune Balken, viel Fensterfläche. Ruprecht sagt, 70 Quadratmeter kämen zusammen. Er putzt sie nicht mehr selbst. Die langen Fenster des Wintergartens ziehen sich bis in den zweiten Stock hoch. Ihre Konstruktion ist – im Wortsinn – schräg, versetzt, die Fensterfront in sich verdreht, ähnlich wie die Fassade der Mexikanischen Botschaft in der Klingelhöferstraße gleich um die Ecke. „Das kann man nicht bauen“, sagte der Fensterbauer, als ihm Ruprecht den Auftrag erteilte. „Doch, hier ist die Zeichnung“, erwiderte der Architekt. Er hat dann die Fensterwand selbst gebaut. Dann kam der Glaser. Und wieder: „Das kann man nicht bauen.“ Am Ende ging es doch. Es musste ja, denn nach der Architekturphilosophie Ottos gilt: „Es gibt keine vorgegebene Form.“

Nester im Baum

Es waren aber nicht nur die Handwerker, die Ruprecht mit seiner Kreativität herausforderte. Die Bauaufsicht fragte ihn einmal, ob er in die Steinzeit zurückkehren wolle, als es um die luftgetrockneten Lehmziegel ging. Der Spott drückte nur die Unsicherheit im Umgang mit unkonventionellen Baumethoden aus. Aber diese waren im Projekt der Ökohäuser einfach zentral. So bauten die Bewohner die Häuser nicht von unten nach oben. Es war möglich, nach dem Errichten des Grundgebäudes aus Stahlbeton erst die oberen Etagen mit Wohnungen zu befüllen und erst später die „Nester“ unten einzurichten. Diese Trägerstruktur, der Gebäudekern, soll Jahrhunderte überdauern. Die einzelnen Wohnungen aber sollen variabel sein, je nach Mensch und Lebensabschnitt veränderbar, so Ottos Idee.

Dahinter steckt die Erfahrung, die Frei Otto mit dem Bombenkrieg in Augsburg erlebt hat. Er sah die steinerne Stadt von einem Tag auf den anderen in Staub aufgelöst. Warum also länger in Stein bauen? Warum Häuser bauen, die länger existieren als die Menschen, die in ihnen wohnen? Wer nie im Bombenregen war und die Zerstörung der Stadt gesehen hat, so sagte Otto einmal, hat ein Semester Städtebau versäumt. Ruprechts Eigentumswohnung ist also ein temporäres, selbst gebautes Nest in Frei Ottos ewigem Betonbaumhaus. 

Gebautes Biotop

Hier sitzt Ruprecht im Wintergarten und schaut durch das Fensterglas in den Garten. Eine starke Baumlilie wächst außen an den zweigeschossigen Fenstern hinauf. Eine Kletterrose hat sich um ihren Stamm gewickelt. Schön. Efeu bedeckt den Boden, bis auf die Stelle, wo der Bauherr einen quadratischen Kantenstein in die Erde gesetzt hat, der mit Wasser gefüllt ist. Hier sieht er den Igel trinken und den Rotfuchs, erzählt Ruprecht. Für die badenden Amseln, damit sie nicht zu tief in den Pool fallen, hat er ein paar kleine Steine hineingelegt. Und an der Gartenmauer steht ein besonderer Strauch. Gertrud Hollm, seine Nachbarin, hat ihn ausgegraben, bevor die Baustelle kam. Später hat sie den Strauch wieder an Ruprecht zurückgegeben. Denn sie hatte ihn ja ausgegraben, wo heute sein Wohnzimmer steht. Auch der Grundstein des Hauses liegt hier 22 Zentimeter unter dem Fußboden.

Der Kantenstein lag auf dem Trümmergrundstück. Und auch das Eisentor ist zur Hälfte das Original der alten Nuntiatur. Die Ökohäuser wurden in den vorhandenen Vegetationsbestand hineingebaut und alte Hinterlassenschaften der Vertretung des Vatikans in die Gestaltung einbezogen. Selbst einen Bunker gibt es, von Flieder bedeckt. 

Manfred Ruprecht schätzt das Kleinklima, das durch diese üppige Pflanzenwelt entsteht. Er sagt, der Efeu blühe erst nach acht Jahren. Diese ästhetische Durststrecke hat er längst hinter sich gebracht. Im Sommer 1990 war er eingezogen, wie die meisten der ursprünglich 55 Bewohner. Seitdem verkauften oder wechselten viele Eigentümer ihre Wohnungen, Kinder sind auzgezogen, auch Scheidungen und Todesfälle machten das winzige Dschungeldorf über die Zeit ruhiger und kleiner. Oben fehlt seinem Wintergarten noch das Außengeländer. Es wird immer fehlen, weil Ruprecht es nicht braucht. Er sagt, er werde es anbauen, falls er sein Haus einmal verkauft. 

Die niederländische Filmemacherin Beate Lendt hat 2011 über die Ökohäuser und ihre Bewohner einen Dokumentarfilm gedreht („Der Traum vom Baumhaus – Das Ökohausprojekt von Frei Otto in Berlin“).

Frei Otto starb am 9. März 2015. Einen Tag nach seinem Tod wurde ihm der Pritzker-Architekturpreis verliehen. Otto war über die Entscheidung der Jury aber vorher informiert worden. 

André Franke

 

64 - Herbst 2015