Vom Traum zur Wirklichkeit

Die Füchse Berlin feilen an einer Spitzenmannschaft aus eigenen Handball-Talenten. 

Kurz vor dem alljährlichen Saison-Knaller gegen die Über-Mannschaft des THW Kiel ereilte den Handball-Bundesligisten Füchse Berlin das Schicksal. Mit Europameister Fabian Wiede und dem norwegischen Nationalspieler Kent Robin Tönnesen fielen beide Rückraum-Werfer auf der Linkshänder-Position verletzt aus. „Was macht ihr jetzt, holt ihr schnell einen Ersatz?“, wurde Manager Bob Hanning von den mittlerweile allgegenwärtigen Medien bedrängt. Der weitsichtige Geschäftsführer setzte sein wissendes Lächeln auf und antwortete druckreif: „Das müssen wir nicht. Für solche Situationen bauen wir seit Jahren vor“, dozierte der 48-Jährige und beförderte seinen Nachwuchsspieler Christoph Reißky kurzerhand ins Profiteam.

Zwar konnte der 21-Jährige dem erfahrenen Gäste-Trainer Alfred Gislason imponieren, abzuwenden vermochte das Eigengewächs die Niederlage noch nicht. Doch hier, wie auch bei seinen anderen Auftritten im rauen Handball-Geschäft, zeigte der Junior sein Potenzial und verdeut-lichte die Marschroute des Vereins, mit eigenen Talenten nicht nur den Weg in die nationale und europäische Spitze zu beschreiten, sondern auch immer die Entwicklung von deutschen Spielern für die Nationalmannschaft voranzutreiben.

Den Lohn für solchen Weitblick ernteten die ursprünglich im Stadtteil Reinickendorf beheimateten Handball-Füchse bereits zum zweiten Mal ganz früh in der Saison. Beim Super Globe genannten Einladungsturnier der weltbesten Vereinsmannschaften wiederholte der finanzielle Underdog sein Kunststück aus dem vergangenen Jahr und gewann im Wüstenstaat Katar die mit fast einer halben Million Dollar Siegprämie dotierte Veranstaltung vor dem als reichster Verein der Handball-Welt geltenden Star-Ensemble von Paris St. Germain.

Das war trotz fehlender Vorbereitungszeit – drei Viertel der Mannschaft waren bei Olympia oder Nachwuchs-Titelkämpfen im Einsatz – dem beharrlichen Festhalten an der Ausbildung eigener Talente zu verdanken. Während andere Profimannschaften noch um Einspielzeit rangen, hatten die Füchse beim Saisonstart ihre Stars durch eine Art Sparringspartner aus dem Nachwuchs-Reservoir ersetzt, die im Team der Profis die Spielzüge für die fehlenden Nationalspieler imitierten. So waren die von Trainer Erlingur Richardsson angesagten Angriffe dann schneller einstudiert. Und wie vor Jahresfrist mit den Top-Teams aus Veszprem und Barcelona musste das in diesem September das Pariser   Starensemble um den deutschen    Nationalmannschafts-Kapitän Uwe Gensheimer anerkennen.

Das von Bob Hanning eisern durchgesetzte Konzept hat zuerst Trainer Dagur Sigurdsson begeistert mitgetragen und jetzt beim Aufbau der Nationalmannschaft durchgesetzt. Nur so konnte der neue Bundestrainer nach Jahren der Stagnation mit dem jüngsten Team der Titelkämpfe im Januar gleich auf den EM-Thron steigen und bei Olympia die Bronzemedaille erkämpfen. Sein Landsmann Erlingur Richardsson verfolgt diese Philosophie mit Akribie weiter. „Natürlich ist es im heutigen Wettkampfbetrieb wichtig, gute und vor allem siegreiche Ergebnisse vorzuweisen“, sagt der Isländer. „Für mich steht aber ein anderer Aspekt im Vordergrund: Ich will die Mannschaft stetig weiterentwickeln. Ich strebe ein Ziel nicht Ende Dezember oder Ende der Saison an. Sicher, das ist auch wichtig. Hauptsache ist für mich aber, dass die Mannschaft am Ende einer jeden Saison einen Leistungszuwachs nachweist. Dann kommen die positiven Ergebnisse von ganz allein“, erklärt der 44-Jährige.

Mittlerweile wird das Konzept der Füchse nicht nur im Verein sichtbar, der den besten Bundesliga-Start seiner Geschichte hinlegte. Mit den jungen Eigengewächsen Paul Drux und Fabian Wiede sowie dem im Sommer aus Wetzlar nach Berlin gewechselten Steffen Fäth stellen die Füchse die komplette Rückraumreihe der Nationalmannschaft. Dass mit ihnen länger zu rechnen ist als bis zu dem von Bob Hanning geforderten Olympiasieg in Tokio 2020 belegt das Alter des Trios, das es zusammen noch nicht einmal auf 70 Jahre bringt! Um den Nachwuchs nicht nur auf dem Feld gleichermaßen zu fordern wie zu fördern, sondern auch auf der Bank in die Entscheidungsfindung einzubinden, hat der Manager der Füchse auch hier für Veränderung gesorgt. Statt seiner Autorität hat neben Erlingur Richardsson seit dieser Saison hier der junge Maximilian Rinderle das Sagen, der sich zwischen dem Isländer und dem erfahrenen Sportdirektor Volker Zerbe keineswegs verkriecht. „Ich versuche schon, mich während des Spiels mit Erlingur auszutauschen. Wenn mir etwas auffällt, das wir taktisch verändern können, dann gehe ich auf ihn zu und freue mich, wenn er meine Meinung akzeptiert und spontan umsetzt“, erzählt der neue Assistenztrainer.

So arbeitet Bob Hanning seit mehr als elf Jahren an der Verwirklichung eines Traumes. „Ich will eines Tages meine Füchse beobachten, wie sie unter einem Trainer, der aus unserem eigenen Reservoir stammt, und mit einer Mannschaft, die zum großen Teil aus unserer erfolgreichen Jugend hervorgegangen ist, den großen Vereinen Paroli bietet.“ Ob er mit dieser zur Realität gewordenen Vision dann am Ziel ist, lächelt Berlins „Mister Handball“ vom Tisch. Man wird ja wohl noch weiter träumen dürfen.

Hans-Christian Moritz

 

68 - Winter 2016
Sport